Eric Rahne studierte an der Technischen Universität Budapest an der Fakultät für Mess- und Regelungstechnik. Er beschäftigt sich seit 1992 mit der industriellen Messtechnik, seit 1994 mit der Schwingungsdiagnostik und seit 1995 mit der Thermografie. Seit 1995 unterrichtet er Thermografie und Maschinendiagnostik an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, seit 2001 lehrt er diese Themen auch im Rahmen eigener Kurse. Seine Artikelserien sind in mehreren Zeitschriften erschienen, auf zahlreiche Fachkonferenzen hielt er Vorträge. Eric Rahne ist Gründer, Eigentümer und fachlicher Leiter der PIM Professionelle Industrie-Messtechnik GmbH in Ungarn. 2008 erwarb und 2013 erneuerte er seine Zertifizierung zum Thermograf Stufe 3 (für alle Fachbereiche). Seit 2008 ist er zudem Schulungsleiter bei der Infratec GmbH Dresden. Das vorliegende Buch basiert auf mehr als zwei Jahrzehnten Berufserfahrung, fast 65.000 thermografischen Einzelaufnahmen, mehr als 350 thermografischen Expertisen und der Tätigkeit als Gerichtssachverständiger seit 2010.
1.
Physikalische Grundlagen
1.1. Wärmelehre, Thermodynamik
Für die fachliche Betrachtung der auf Infrarotstrahlungsmessung beruhenden Temperaturbestimmung ist es notwendig, allem vorausgehend die thermodynamischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten bzw. Zusammenhänge zu behandeln. In diesem Kapitel werden daher die wichtigsten, mit der Temperatur in Beziehung stehenden Begriffe definiert, darauf achtend, dass nur die notwendigsten Aspekte diskutiert werden. Der Schwerpunkt liegt insbesondere auf den Zusammenhängen, welche den größten Einfluss auf die thermografischen Messungen bzw. deren Auswertung ausüben.
1.1.1. Temperatur, Atommodell von Bohr
Die Temperatur ist eine thermodynamische Maßzahl für die innere Energie von Materie, unabhängig des Aggregatzustandes derselben. Materie mit über der absoluten Nullpunkttemperatur (-273,15 °C bzw. 0 K) liegenden Temperaturen haben eine innere Energie über Null, welche als die Summe der Schwingungsenergie der Atome und Moleküle, sowie der Bewegungsenergie der Elektronen (also als durchschnittliche kinetische Gesamtenergie aller Teilchens) zu verstehen ist. Die stark vereinfachte Erklärung des Zusammenhanges ist die Erhöhung der Frequenz und Amplitude der Atom- und Molekülschwingungen, sowie ein Anwachsen der Bewegungsgeschwindigkeit und des (nicht unbedingt kreisförmigen) Bahndurchmessers der Elektronenbewegung gemeinsam mit dem Ansteigen der Temperatur.
Abb. 1: Atommodell von Bohr
Abb. 2: Niels Henrik David Bohr (1885 - 1962) Dänischer Physiker und Nobel-Preisträger (mit freundlicher Genehmigung des Niels Bohr Archive, Kopenhagen [A1])
Unter den vielen existierenden und wissenschaftlich akzeptierten Atommodellen gibt das Modell von Bohr die einfachste Erklärung für die innere Energie und das Entstehen der elektromagnetischen Strahlung. Diesem Atommodell entsprechend sind die Bahnen der Elektronen um den Atomkern (Protonen) jeweils an ein bestimmtes Energieniveau gebunden. Die Energie auf diesen Bahnen ist konstant, die Elektronen haben demnach einen energetisch stabilen Bewegungszustand. Diese stabilen Zustände können nur durch den Sprung auf eine Bahn mit höherem oder niedrigerem - wiederum stabilen - Energieniveau verlassen werden. Wird die Materie erwärmt (also Energie zugeführt), springen die Elektronen auf ein höheres Energieniveau. Verlässt dagegen ein Elektron seine derzeitige Bahn auf ein niedrigeres Energieniveau, dann wird der Energieunterschied als elektromagnetische Welle (entsprechend klassischer Wellenlehre) oder als Wellen- und Massencharakter besitzendes Photon (nach der modernen Quantenphysik) abgegeben. Die abgegebene Energie entspricht dem Unterschied zwischen dem Energieniveau der beiden Bahnen. (Energieerhaltungsgesetz = 1. Hauptsatz der Thermodynamik)
Abb. 3: Erklärung der Strahlungsaufnahme und -abgabe mittels des Atommodells von Bohr
1.1.2. Grundgesetze und Zusammenhänge der Wärmelehre
1.1.2.1. Aggregatzustände
Theoretisch kann jede Materie in allen 4 Aggregatzuständen (fest, flüssig, gasförmig und als Plasma) auftreten. Es gibt jedoch feste Materialien, die sich schon bei einer Temperatur unter ihrem (theoretischen) Schmelzpunkt bereits chemisch umwandeln. Aus dem gleichen Grund gibt es auch viele Substanzen, die in gasförmigem Zustand nicht auftreten.
Festkörper - fester Aggregatzustand
Feste Substanzen umfassen kristalline und amorphe Materialien, und es gibt auch solche, die unterschiedliche Strukturen aufweisen können. Letztere weisen aufgrund ihrer strukturellen Unterschiede auch in ihren physikalischen Eigenschaften signifikante Abweichungen auf. Der feste Aggregatzustand ist durch Körper mit einer beständigen Form und einem bestimmten Volumen gekennzeichnet. Bei festen Materialien können Form- und Volumenänderungen nur durch Krafteinwirkung erreicht werden. Zur Beschreibung der Materialeigenschaften werden daher Zug- und Druckfestigkeit, Härte und Elastizität als stoffspezifische Eigenschaften verwendet.
Bei steigenden Temperaturen verringern die meisten Festkörper ihre Druckfestigkeit und Härte, erhöhen dabei ihre Elastizität. Im Allgemeinen wird durch Erhöhen der Temperatur auch das Volumen erhöht, dessen Grad durch den Wärmeausdehnungskoeffizienten quantifiziert wird. Beim Erreichen der sogenannten Schmelztemperatur gehen die Materialien in einen flüssigen Zustand über.
Flüssigkeiten - flüssiger Aggregatzustand
Flüssige Stoffe (Flüssigkeiten) haben ein konstantes Volumen, sind aber in ihrer Form unbestimmt (variabel). Durch eine Kraft (z.B. Gravitations- oder Zentrifugalkraft) nimmt die Flüssigkeit die Form des Behälters an. (Anmerkung: Unter gravitationsfreien Bedingungen wird aufgrund der Oberflächenspannung eine Kugelform auf Grund der in der Flüssigkeit auftretenden Adhäsionskräfte eingenommen.)
Die Anziehungskraft zwischen den Molekülen der Flüssigkeiten ist wesentlich geringer als die der Festkörper, so dass diese nur noch zum (schwachen) Zusammenhalt der Materie ausreichend ist. Eine Formbeständigkeit ist dagegen nicht vorhanden, da die freie Bewegung von Atomen bzw. Molekülen zueinander möglich ist. Als Materialmerkmal wird bei Flüssigkeiten daher die Viskosität anstelle der Festigkeit bei festen Körpern verwendet. Die Zu- bzw. Abnahme des Volumens bei Temperaturänderung verhält sich ähnlich wie bei den festen Stoffen.
Bei Erreichen der Verdampfungstemperatur wird die Oberflächenspannung der Flüssigkeiten praktisch aufgehoben, so dass bei dieser Temperatur die Flüssigkeit zu Dampf und bei weiterer Temperaturerhöhung - die kritische Temperatur überschreitend - dann zu einem Gas wird.
Dampf- und gasförmiger Aggregatzustand
Ungeachtet der Form oder des Volumens der gasförmigen Medien wird der verfügbare Raum gleichmäßig ausgefüllt. Es gibt praktisch keine Anziehungskraft zwischen den Molekülen in diesem Aggregatzustand. Drehung, Schwingung und makroskopische Bewegung der Partikel führt zu "Zusammenstößen" zwischen diesen und so bewegen sie sich voneinander weg. Gasförmige Materien füllen daher den zur Verfügung stehenden Raum gleichmäßig und mit überall gleichem Druck aus. (Anmerkung: Dies ist natürlich nur der Fall, wenn äußere Kräfte - z.B. Gravitation - das Gas nicht beeinflussen.)
Im gasförmigen Zustand heißen die Materialien unterhalb der kritischen Temperatur Dampf und darüber dann Gas. Dämpfe können zu Flüssigkeiten verdichtet (komprimiert) werden, Gase dagegen können bei keinem - noch so hohen Druck - verflüssigt werden. Dies wäre nur möglich, wenn es vorher unter seine kritische Temperatur abgekühlt worden wäre, also in Dampf umgewandelt würde.
Aufgrund der minimalen Viskosität der gasförmigen Materialien und ihrer - verglichen mit Flüssigkeiten und Festkörpern um Größenordnungen - höherer Kompressibilität können ihre Form und ihr Volumen schon mit relativ geringen Kräften verändert werden.
Plasma - ionisierter Aggregatzustand
Gasförmige Substanzen können bei sehr hohen Temperaturen aufgrund von Strahlung oder starken elektromagnetischen Feldern mittels Ionisierung der Atome und Moleküle in den Plasmazustand übergehen. Hierbei werden Elektronen von den Atomen getrennt, so dass Ionen und Elektronen entstehen, die sich im Plasmazustand frei bewegen können. Wegen der "freien" Elektronen leitet Plasma den Strom gut.
Theoretisch können alle Materialien bei einer ausreichend hohen Temperatur, die auch als thermische Ionisation bezeichnet wird, in den Plasmazustand gebracht werden. Für die sogenannte Totalionisation werden mehrere zehntausend Kelvin hohe Temperaturen benötigt (kaltes Plasma), die Temperatur von "heißem" Plasma beträgt sogar mehrere Millionen Kelvin.
Der Plasmazustand selbst ist überraschend häufig, beispielsweise befindet sich das Universum (Sterne und interstellare Materialien) in der überwiegenden Mehrheit (99%!) in diesem Zustand. Auch die Luft zeigt Plasmazustände, z.B. in Blitz-, Elektro- oder Koronaentladungen, und wird in Bogenlampen und in Gasentladungsröhren gezielt ausgenutzt.
Änderungen des Aggregatzustandes
Die Änderungen der Temperatur und/oder des Drucks der Substanzen führen bei Erreichen eines entsprechenden Temperatur- bzw. Druckwertes zu Veränderungen des Aggregatzustandes. Diese Änderung ist ein reversibler Prozess, solange sich die Substanz nicht auf thermischer Basis chemisch verändert. Es ist auch eine wichtige Erkenntnis, dass bei der Änderung des Aggregatzustandes stets eine bedeutende Energiezufuhr notwendig oder eine große Energieabgabe (-freisetzung) zu beobachten ist.
Abb. 4: "Traditionelle" Aggregatzustände, Phasen und Übergänge
Die Umwandlung von Feststoffen durch Wärmeenergie in eine Flüssigkeit (Schmelzen) erfolgt bei einer gegebenen Temperatur, die man Schmelzpunkt nennt. Hierbei werden die Kräfte...