Die Beruhigung der Seele
Sebastian Steffens
»Amun - set - Re - ta - sal - rah!« John fuhr mit der Hand über die alten Zeichen auf der Wand und murmelte leise die Silben, für die sie standen. Dann wischte er sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Mit 50 Jahren und einem Bauchansatz machte er sich zwar noch ganz gut im Hörsaal, aber nicht im Feldeinsatz. Schon gar nicht in der ägyptischen Hitze. Und besonders vor seiner Tochter Kathy wollte er nicht wie ein alter Sack wirken. Er sah sich lieber als eine Art Indiana Jones. »Ich glaub', ich muss wieder mehr trainieren«, murmelte er.
»Das steht da sicher nicht.« Kathy grinste.
John machte einen Schritt zur Seite, damit das spärliche Licht aus dem Zugangsschacht die Kegel der Akkuscheinwerfer beim Ausleuchten der Wand besser ergänzen konnte. »Äh, nein. Der Rest ist schwer zu entziffern. Aber ich glaube, das heißt so viel wie >Störe die Ruhe und Du wirst dienen!<« John überlegte, zog ein kleines Büchlein aus der Seitentasche seiner Tropenhose und blätterte darin. »Vielleicht auch . >Sklave sein< statt dienen. Ist nicht ganz klar.« Er zog die Stirn in Falten und kniff die Augen zusammen.
Grabräuber hatte es im Tal der Könige schon solange gegeben, wie Gräber. Also seit 3000 Jahren mehr oder weniger. Aber dieses Grab hier, die Nummer KVWW 17, war unberührt. Und es war großartig. Nach zwei Jahren der Recherche in den vergessenen Regalen von Museen und Archiven und zwei Monaten der Suche vor Ort hatten sie diesen Raum ausgegraben.
Auf den Wänden waren im Licht der Scheinwerfer reiche Verzierungen, Hieroglyphen und Bilder von Re, dessen Tochter Maat und ihrem Gegenspieler Apophis sowie von Isis und Anubis zu erkennen. Auch der Verweis auf Cherti, den Fährmann des Todes, fehlte nicht. Die erdigen Farben sahen noch so frisch aus, als wären die Bilder gerade eben erst von einem sorgfältigen Maler - oder sollte man sagen Schreiber? - auf die Wände gebracht worden.
Ungewöhnlich unter den abgebildeten Göttern und Dämonen waren Benu und Ba. »Wiederauferstehung und freie Seele«, murmelte John.
Kathy schüttelte den Kopf, als ob sie die Irritation durch das Geräusch vertrieben wollte, und folgte dem Blick ihres Vaters. »Wahnsinn eigentlich.«
»Wahnsinn?« John musste lachen. »Bitte etwas mehr Respekt, junge Dame«, sagte er ironisch.
»Ich mein' ja nur. Dreitausend Jahre lang haben die ihren Priestern alles geglaubt, unglaublichen Aufwand in all die Tempel und Pyramiden gesteckt und für uns ist es nur noch Wissenschaft und Kunst. Da kann man für schon demütig werden, wenn man bedenkt, dass alle aktuellen Religionen erst seit viel weniger Jahren existieren. Vielleicht werden die später auch mal von Wissenschaftlern enträtselt.«
Stimmt, dachte John und war stolz auf sie. »Nicht, dass Du mir noch weise wirst mit dem Alter«, grinste er.
Kathy grinste zurück.
John überlegte. »Aber warum eigentlich Grabräuber? Hier ist doch nichts, was man rauben könnte.«
Kathy wiegte den Kopf hin und her. »Vielleicht liegen Grabbeigaben ja nicht einfach in einer Vorkammer rum.«
»Wieso Vorkammer?« John war irritiert. Hier ist doch Schluss. Er zeigte auf die Wand.
»Jetzt schau halt endlich auf den Bildschirm.«
»Ach, der Technikschnickschnack«, winkte John ab. »Wer braucht das schon?«
»Wenn du jetzt nicht schaust, werde ich ernsthaft sauer.«
John seufzte. »Also schön, was hat uns dein Dings denn mitzuteilen?«
»Schau selbst.«
John blickte auf den Monitor und bekam große Augen. Die Konturen eines Zugangsschachts und des Raumes, in dem sie standen, waren klar zu erkennen. Auch die Wand mit den Hieroglyphen. Und ein Hohlraum dahinter! »Mein Gott, das ist nur eine Scheinwand!«
»So ist es«, sagte Kathy sichtlich zufrieden. »Die Wand ist Fake. Ein wenig Technikschnickschnack schadet wohl doch nicht? Ich denke, was wir da sehen, ist die Hauptkammer! Und das da .« - sie deutete auf eine T-förmige Struktur in der Kammer hinter der Wand - ». ist vielleicht, was die Sprüche beschützen sollen.«
John steckte sein kleines Büchlein weg und zog aus derselben Tasche ein Handy, drückte zwei Tasten und sprach hinein: »Dreizehnter Tag der Expedition. Wir stehen in der Vorkammer von Grab KVWW-17. Das Tiefensonar zeigt eine weitere Kammer hinter einer Scheinwand. Wir öffnen jetzt vorsichtig einen Sicht- Zugang .«
»Ach, jetzt ist es ein Tiefensonar und kein Technikschnickschnack mehr?«
John zuckte mit den Schultern. »Es musste sich seinen Namen erst verdienen.«
»Wollen wir?« Kathy wippte auf ihren Füßen auf und ab.
»Okay, los. Aber vorsichtig!«
Kathy nahm einen kleinen Handpickel vom Gürtel und bearbeitete damit vorsichtig die Wand. Die Schläge klangen dumpf, Lehm bröckelte ab und rieselte zu Boden. Plötzlich fühlte sie, wie das Material nachgab. Der Pickel durchstieß die dünne Wand. Ein paar Brocken Mörtel lösten sich ringsum, das Loch wurde größer. Ein Luftzug kam aus dem Loch. Heraus. Das war ungewöhnlich. John hielt sich ein Tuch vor die Nase, gab Kathy ein zweites und machte ihr ein Zeichen es ihm nach zu tun. »Schimmelpilze vielleicht«, sagte er gedämpft durchs Tuch.
»Hmm«, brummte Kathy in ihr Tuch. Dann war es, als würde dieser Laut von den Wänden aufgenommen, zurückgeworfen und dabei verstärkt: HmmmMMMMM. Ein dumpfes Grollen. Dann ein Rumpeln. »Was zum .?« Kathy trat einen Schritt zurück und schaute sich um. Ein lauter dumpfer Schlag war zu hören. Der Sand am Boden der Kammer wurde aufgewirbelt.
Hinter John und Kathy erstarb im Zugangsschacht das Tageslicht. Nun blieb nur noch das Licht der Akkuscheinwerfer. Es tauchte das Gesicht ihres Vaters in bleiches Licht. Oder war die Farbe aus seinem Gesicht gar nicht wegen der künstlichen Beleuchtung verschwunden?
»Oh Scheiße.« John setzt sich mit zittrigen Knien auf den Boden.
»Was war das denn?« Kathy war sichtlich besorgt. Sie kaute auf ihrer Unterlippe.
»Eine Falle. Wir sind eingeschlossen.« John schüttelte halb ungläubig, halb die alte Technik bewundernd den Kopf.
»Und jetzt?« Kathy schien sich zu ärgern, dass ihr Vater weniger Anzeichen von aufsteigender Panik zeigte, als sie selbst fühlte.
»Abwarten, bis uns jemand ausgräbt. Oder willst du's damit versuchen?« John zeigte auf den Handpickel, den Kathy noch in der Hand hielt.
Kathy kam ihr Werkzeug mit einmal lächerlich klein vor.
Sie seufzte und setzte sich neben ihren Vater auf den Boden.
»Na schön. Wie lange wird es dauern, bis uns jemand findet?«, wollte sie wissen. John zuckte mit den Schultern. »Heute Abend vielleicht.«
Kathy lächelte erleichtert.
»Oder halt in dreitausend Jahren«, fuhr John seufzend fort.
Kathy schaute ihn böse an. Sie schwiegen eine Weile.
Es raschelte wieder. Das kam von hinter der Wand. John zuckte zusammen. »Was .?«
Ein Kratzen war zu hören.
Kathy stand auf. »Vielleicht ist da ein Tierbau - etwas, das wir vergrößern können, um hinaus zu kommen. Oder wenigstens frische Luft.« Sie leuchtete mit der Taschenlampe durch das Loch - mitten in ein schrumpeliges Gesicht! Kathys Herz setzte einen Schlag aus. Sie taumelte zurück.
»Was hast Du denn?«, wollte John wissen. Aber Kathy schüttelte nur stumm den Kopf und wich von der Wand zurück.
Das Rascheln wurde lauter. Jetzt wieder dieses Kratzen. Eine Hand griff durch das Loch. Sie sah aus, als würde sie nur aus Haut bestehen, die zu Leder geworden war. Eine zweite Hand erschien und beide rissen mit erstaunlicher Leichtigkeit die Wand um das Loch herum ein.
Kathy schrie. Sie ließ den Pickel fallen und bemerkte es nicht einmal.
John schrie noch lauter.
Langsam arbeitete sich eine Gestalt durch das Loch - offenbar keine lebende Gestalt. Auch keine Mumie. Eher ein Art Ledermann. Auf dünnen Knochen festgeklebtes dunkles, altes Leder. Die Erscheinung fing an zu sprechen: »Ar... Ath... Mo... Ker... He... Sa... Amen... Thep.«
John konnte mühsam folgen. Das war Altägyptisch aus dem ersten Reich, nicht Johns Spezialgebiet. Dass Kathy, weiter an die Wand gepresst, immer noch gellend kreischte, war auch nicht hilfreich. John zwang sich dazu, die Worte konzentriert laut nachzusprechen.
Das brachte Kathy dazu, das Schreien zu beenden. Sie blickte die Erscheinung nur noch ungläubig an.
Dann übersetzte John: »Du - gestört - Ruhe von - Amenthep.« Er versuchte, in derselben Sprache zu antworten: »Sa - Lun - Te - Amenthep? Du - Amenthep?« Der Ledermann bewegte langsam und knarzend den Kopf von links nach rechts. Schütteln konnte man es nicht nennen. Aber es hatte wohl die gleiche Bedeutung. »Ka She Po.«
»Priester«, übersetzte John.
»Amen Thep Ank.«
»Amenthep - dort«.
Die Lederhand wies durch das Loch in die Hauptkammer. Kathy nutzte diese Ablenkung, sprang vor, schnappte sich den kleinen Pickel wieder vom Boden und hielt ihn abwehrend in Richtung Gestalt. Die drehte nur den Kopf in Kathys Richtung und rührte sich nicht. Wieder knarzte es dabei, als ob man einen alten Ledergürtel verdreht. Kathy stellten sich die Nackenhaare auf.
John war inzwischen jenseits jeder Angst. Er nahm den Scheinwerfer und leuchtete die Kammer hinter dem Loch aus. Für das Gold und den Streitwagen, die sich darin befanden, hatte er kein Auge.
Denn in der Mitte standen ein prächtiger Sarkophag und an dessen Fußende ein leeres steinernes Bett. Und der Deckel des Sarkophags bewegte sich langsam scharrend zur Seite.
Hinter John fing die seltsame...