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ZEHN JAHRE SPÄTER .
Der Wind zog an meinem schwarzen Mantel, als wollte er mich dazu bringen, mich zu rühren. Dennoch stand ich bewegungslos, unbeeindruckt von der Kälte Washingtons da und blickte auf den frischen Haufen Erde. Innerlich fühlte ich genauso viel wie äußerlich. Nichts. Leere. Als wäre da ein großes, schwarzes Loch, das meine Gefühle verschluckt hatte.
Wie in Trance griff ich in meine Hosentasche, schloss meine Hand um den kühlen Hämatit und versuchte, Kraft aus meinem Talisman zu ziehen.
»Dad«, flüsterte ich, den Blick weiterhin auf den Erdhaufen gerichtet. »Wieso? Wieso lässt du mich nun auch allein?« Tränen folgten der Spur derer, die bereits zuhauf über meine Wangen geflossen waren. »Was soll ich denn jetzt machen?«
Meine Stimme brach, denn mit einem Mal stürzten alle Gefühle auf mich ein. Ich sank auf die Knie und schluchzte hemmungslos.
»Shh, Kleines«, hörte ich Bonnies rauchige Stimme, ehe sich zwei Arme um mich legten. »Ist schon gut. Lass es raus und friss es nicht in dich hinein.«
Ich wusste nicht, wie lange wir so auf dem kalten, gefrorenen Boden des Mountain View Memorial Park saßen, doch schließlich löste ich mich von ihr und blickte in ihr rundes Gesicht mit den liebevollen braunen Augen.
»Danke«, krächzte ich, stand auf und versuchte, wieder Leben in meine steinernen Glieder zu bekommen. Es wurde Zeit, dass der Frühling sich endlich von der sonnigen Seite zeigte. »Für alles vielen Dank, Bonnie.«
Bonnie war die zweite Ex-Frau meines Vaters. Er war ein toller Dad, zumindest seit ich zu ihm gezogen war. Doch offensichtlich war er kein guter Ehemann. Sonst hätte er niemals Mom oder auch Bonnie vergraulen können.
Mom . hier auf dem Friedhof zu sein, erinnerte mich zu sehr an die Zeit vor fünf Jahren, als ich bereits von einem Elternteil hatte Abschied nehmen müssen. Damals hatte ich mit ihr in Tampa gelebt, dort, wo es niemals kalt wurde. Und ich hatte es geliebt, so sehr hatte ich es geliebt. Selbst als Flynn weggezogen war, hatte ich die Stadt und unser Viertel geliebt.
Bis Mom eines Tages nicht vom Einkaufen nach Hause kam. Zwei Gangs hatten sich auf offener Straße bekriegt, und meine Mutter war für sie nichts weiter als ein Kollateralschaden gewesen.
Ich war dreizehn, als eine Frau des Jugendamts vor der Tür gestanden hatte, die mir mitteilte, dass meine Mom erschossen worden sei und ich von nun an bei meinem Dad in Lakewood, Washington wohnen würde. Sie würde aber bei mir bleiben, bis mein Dad käme, um mich abzuholen. Sie würde mir auch beim Packen helfen. Und das alles hatte sie mit einer Kälte gesagt, die der Schneekönigin aus dem Märchen hätte Konkurrenz machen können. Ich konnte mich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Damals hatte ich mich schon gefragt, wie eine Frau einem Kind gegenüber so gleichgültig sein konnte . einem Kind, das soeben erfahren hatte, dass seine Mom umgebracht worden war.
»Nicht dafür, Sweetheart«, riss Bonnie mich aus meinen Erinnerungen. »Auch wenn dein Dad und ich schon lange getrennt leben, sollst du wissen, dass ich immer für dich da bin.« Sie erhob sich ebenfalls und klopfte ihr schwarzes Kleid ab. »Soll ich dich nach Hause bringen?«
Dankbar nickte ich, wandte mich erneut dem Erdhaufen zu, unter dem Dads Urne vergraben wurde, und flüsterte: »Du bist viel zu früh gegangen. Du schuldest mir eigentlich so viel mehr Zeit, Dad.« Mit dem Ärmel wischte ich mir die Tränen von den Wangen. »Wir hatten viel zu wenig Zeit miteinander. Ich vermisse dich jetzt schon.«
Meine Stimme brach, als ich den rauen, dunkellila gefärbten Edelstein auf den Erdhügel legte, mich abwandte und den Blick über den Valley Rose Urn Garden schweifen ließ. So viele Gräber, die über so viele geliebte Menschen verfügten. So viele Rosen, die die Liebe zu den Verstorbenen ausdrückten. So viele Gefühle in nur einem Blick. Dads Entscheidung, dass er hier begraben werden wollte, war definitiv die beste, die er zu Lebzeiten getroffen hatte.
»Den Amethyst mochte Liam immer besonders gerne«, meinte Bonnie mit brüchiger Stimme und räusperte sich. Dann drückte sie meine Schultern. »Na komm, gehen wir.«
Ich nahm einen tiefen Atemzug, ergriff Bonnies Hand, und gemeinsam schlenderten wir zum Parkplatz, wo ihr Auto stand. Zur Beerdigung war ich mit einem Uber gefahren, sodass ich kein Auto hatte, das den Weg nach Hause finden musste.
Die Fahrt nach Hause verbrachte ich schweigend, den Kopf an das Fenster gelehnt. Das schöne Lakewood, einer der Vororte von Tacoma, gesäumt von Einfamilienhäusern in ruhigen Straßen, zog von mir unbeachtet vorbei.
Meine Gedanken kreisten um die Verluste, die mein Leben prägten. Um Mom, um Dad. Um die Tatsache, dass es so viele Erfahrungen gab, die ich mit meinen Eltern teilen wollte. Um die Tatsache, dass das nun nicht mehr möglich war.
Selbstverständlich ging ich davon aus, dass sowohl Mom als von jetzt an auch Dad immer bei mir waren. Aber dass mir die Chance verwehrt war, ein gemeinsames Gespräch mit ihnen zu führen, ließ meinen Magen zu einem pulsierenden Klumpen verkrampfen.
Aber ich dachte auch viel an Flynn. Meinen ersten Verlust. Flynn, der mit seiner Mutter nach Europa übergesiedelt war, nachdem sein Dad verstorben war. Flynn, der mir ab und an Briefe geschrieben hatte, bis seine Nachrichten mich nicht mehr erreichten. Bis ich nach Lakewood zog. Zu Dad.
Meine Gedanken drehten sich weiter im Kreis, und eine stille Träne rann über meine Wange.
»So, Sweetheart«, flüsterte Bonnie, während sie in die Einfahrt unseres Hauses bog. Meines Hauses. Sie stellte den Motor ab und beugte sich zu mir. »Wir sind da. Soll ich noch bisschen bei dir bleiben?«
»Schon gut.« Dankbar lächelte ich sie an. »Ich komme klar.«
Ihr Blick wurde sanft. »Das musst du aber nicht, Lani. Das weißt du, ja?«
»Weiß ich, Bonn, danke.« Ich wollte dem Mitleid in ihren Augen so schnell wie möglich entkommen, weshalb ich mich fix abschnallte. Dann beugte ich mich zu ihr und drückte sie kurz und fest. »Bye.«
»Bis bald, Sweetheart, und ruf mich jederzeit an - egal, wann!«, rief Bonnie, als ich ausstieg.
Ich zog die Haustür hinter mir ins Schloss, warf den Mantel an die Garderobenhaken des schmalen Flures und ging direkt in Richtung der offenen, im hellen Landhausstil gehaltenen Küche. Dort fasste ich meine langen, blonden Haare zu einem Messy Bun zusammen und bereitete mir einen grünen Tee zu. Mit der warmen Tasse zwischen meinen kalten Händen ging ich ins Wohnzimmer, stellte den Tee auf den Glastisch, sank auf das große Ledersofa und schloss erschöpft die Augen.
Diese Stille. Das Haus war zu still. Zu groß für mich allein und viel zu still. Einzig das Ticken der Uhr war zu hören. Tick, tack.
Um die Kälte aus meinen Gliedern zu vertreiben, stand ich auf, legte drei Holzscheite in den Kamin gegenüber der Wohnlandschaft und heizte ihn an. Kraftlos sank ich wieder auf das Sofa und starrte in die schnell züngelnden Flammen des Kamins. Durch das Knistern und Knacken des Holzes kamen Erinnerungen an Dad hoch. Wie oft saßen wir in den vergangenen fünf Jahren auf dem Ledersofa, sahen in die Flammen und lernten uns jedes Mal ein bisschen besser kennen?
Damit ich mich nicht wieder im Gedankenkarussell verlor, öffnete ich die Augen und griff nach der dampfenden Tasse. Meine rechte Hand erstarrte mitten in der Bewegung und schwebte über dem Brief, den ich Dad vor sechs Wochen vor Freude unter die Nase gehalten hatte. Mit zitternden Fingern nahm ich ihn hoch, faltete ihn auseinander und starrte darauf. Tränen sammelten sich in meinen Augen, und die Sicht verschwamm.
Die Zulassungsbescheinigung der Washington State.
Das Knacken eines Holzscheites holte mich wieder ins Hier und Jetzt. Ich schüttelte leicht den Kopf, legte den Brief zurück auf den Tisch und nahm stattdessen die dampfende Tasse in die Hand.
Einen Punkt nach dem anderen, Lani.
Bevor ich einen Schluck nahm, pustete ich am Rand ein wenig hinein. Die Wärme, die der Tee in meiner Kehle hinterließ, die sich in meinem verkrampften Magen sammelte, half mir, mich zu erden.
»Alexa, stell meine Lieblingssongs an«, sprach ich unsere Smart-Home-Assistentin an und atmete tief durch, als die sanfte Melodie von Atlas Falls zu mir drang. Sobald Brent Smith, der Sänger von Shinedown mit seiner tiefen Stimme erklang, nahm ich eine der Decken, die immer über der Sofalehne bereitlagen, und kuschelte mich zwischen den Kissen auf die Couch. Tränen rannen lautlos über meine Wangen, und ich driftete langsam in einen erschöpften Schlaf.
Das penetrante Klingeln meines Handys riss mich aus dem Schlaf. Noch müde setzte ich mich auf und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Das Läuten brach ab, ehe es erneut von vorne begann.
Mit einem Gähnen wischte ich über meine verquollenen Augen, nahm...