Schweitzer Fachinformationen
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"Ich sag dir was!"
"Was noch?"
"Ich mache die Lehre und dann bin ich hier ooch weg."
"Machst du nicht!"
"Und warum?"
"Weil die im Westen keen Trautmann ham."
"Da nehmsch'n eben mit."
Die zwei fetten Weiber sind satt und hieven sich aus dem Bauwagen, eine im grauen Overall und die Traktoristin im Dederon-Kittel, hellblau mit Kirschen. Nachts hat es geregnet, aber es ist schon wieder heiß. Von den Elbwiesen hebt sich träge der Tau, der Morgen riecht nach Kuhscheiße und wir warten. Als Simek - eigentlich Fabian Sikora, aber alle nennen ihn Simek, weil sein Großvater Tscheche ist - endlich auf seiner blauen Schwalbe über den Damm kommt, trete ich die Kippe aus und klettere mit auf den Anhänger. Die Traktoristin zieht an, Simek springt auf, landet auf dem Arsch und schwingt die Beine rein. Das Weib im Overall grunzt: "Noch ma und ich mache Meldung!", kracht das Seitenblech hoch und rungst die Bügel zu. Simek sieht durch mich hindurch und rotzt vor die Gummistiefel.
"Alter, hast du eine Fackel!"
"Dafür is die 'TRAUTMANN' fertsch."
Wir schaukeln den Feldweg entlang, rechts die Ruine der ehemaligen Windmühle, auf der anderen Elbseite zeichnet die Morgensonne die Weinhänge unscharf. Wir sind müde.
Sonntagnacht sind Simek, Sille und ich durch einen Lüftungsschacht gekrochen und in die Theaterwerkstätten eingestiegen. Silles Mutter arbeitet in der Materialstelle der "Jungen Generation", wir wussten, dass die dort schwarzen und gelben Baumwollstoff auf 2-Meter-Rollen haben. "Gib ma den Kuhfuß, meine Alte hat bestimmt Gotano im Spind." Bruch. Das scheiß Schloss fliegt auf. Simek knackt die Pulle, schüttet sich fast die halbe in den Rachen und reicht sie durch. Eine angebrochene Pfeffi gibt's auch noch. Draußen packen wir die Ballen auf Simeks Mopedanhänger und knattern über Schleichwege zurück. Seit drei Nächten singt seine Nähmaschine. Früh müssen wir zur LPG auf Kohlrabi-Ernte, nachmittags lungern wir am Oberen Stausee, trinken Bier und cremen Mädels ein - wenn's klappt. Abends ist Plenum. Plenum heißt, dass einer 'nen Kasten Coschützer mitbringen muss und wir dann auf irgendeine Disco machen. Auf den Dörfern kriegen wir aufs Maul. In der Stadt haben wir Heimspiel, da kennst du deine Jungs und die Kirschen sind immer dieselben, nur selten taucht mal eine neue auf. Letztens aber, die vier Weiber aus Berlin - da hat's schon vorm Jugendclub geknistert.
Am letzten Spieltag hatten wir unsere Fahne verloren. Ende Mai und ausgerechnet gegen Jena! Ich sage noch:
"Wie Trautmann Lesser abgemeldet hat - Ü-BER-RA-GEND!"
".RAGEND!" habe ich noch nicht ausgesprochen, da wird's schon finster. Ich sehe ihn anlatschen, Hände in den Taschen, Jena-Schal um, blaues Nicki, lange braune Loden. Ganz allein. Ich sage noch sehr laut:
"Wie Trautmann Lesser abgemeldet hat - ÜBER ." - und es schlägt ein. So ein abgebrühtes Mistvieh. Wir sind zu fünft! Als ich wieder stehe, fehlt der Beutel. Mir läuft Blut in den Mund. Der Kunde ist über alle Berge. Im Beutel ist die TRAUTMANN - unsere Fahne -, und ich kann froh sein, dass mir Simek nicht gleich auch noch eine reinhaut.
"Du Arschloch! Besoffen und lässt sich den Lappen ziehn! Pit, du bist so eine Null!"
Plenum ist, dass ich seitdem den Kasten Coschützer mitbringe . Aber am 13. August bin ich durch.
"Wenn die neue Saison beginnt," wird im Plenum beschlossen, "trägt Fronzke die Fahne. Bis dahin zahlst du die Plörre. Du Doppelnull!"
Hinter der TRAUTMANN standen wir in der Badkurve, sie war mehr als eine Fahne, sie war unser Stammeszeichen, für das wir zwar nicht gefürchtet, immerhin aber bestaunt wurden - und für Simek war sie heilig.
"Du schläfst doch mit dem Lappen, so wie der mittlerweile stinkt!", bekam er von Sille zu hören. Simek vergaß sie mal in der Waschmaschine, seitdem müffelt der Stoff nach Hund. Jedenfalls bis zum Vorfall Jena bekomme ich "das Juwel" immer erst an der Haltestelle überreicht, auf meinen Schultern lag der Bereich Anfahrt - "weil du Null da noch ni völlig zu bist!" Nur Simek hängt sie vor den Zaun und nimmt sie wieder ab. Reene (der eigentlich René heißt) trägt sie nach Hause. Der ist der Schnellste und säuft nicht. Das ist wichtig. Besonders auswärts. Auswärts fahren Simek, Sille, Fronzke, Reene, ich und manchmal der kleene Schneider. Auswärts heißt, genug Kohle organisieren, früh aus der Schule abhaun, Saufen wie die Alten, die Trapos verarschen, ohne das Spiel zu verpassen, vor Ort wenigstens einigermaßen durchzusehen und vor allem, die TRAUTMANN wieder heil nach Dresden zu kriegen. Auswärts bedeutet äußerste Geschlossenheit. Zu Heimspielen sind wir mehr.
Anfang '87 bekommt Simek Karten für Dynamo gegen Bischofswerda. An sich nichts Besonderes, eher unspektakulär, er und ich, wir rennen schon seit der 7. Klasse zu Dynamo. Aber '87 gegen Schiebock ging's los. Das mit Trautmann. Also, Trautmann kannten wir natürlich schon immer, aber der Reihe nach. Simek hat Karten über seinen Vater gekriegt, der sie von Trautmann persönlich hatte. Simeks Vater ist Arzt.
"Mein Alter sagt, Trautmann hat links hinten kein Kreuzband mehr. Normalerweise läuft der keinen Meter. Der betoniert sich das Knie ein, zwei Binden, eine Rolle Klebeband, so trainiert der mit der Mannschaft! Trautmann ist ein Vieh."
Und gegen Schiebock steht er nach sechseinhalb Monaten wieder auf dem Platz.
"Das is eigentlich ä völliges Unding. Den ham'se nicht mal operiert, sagt mein Alter. Der steht nur durch die Bandagen, den Rest halten die Muskeln. Das geht eigentlich gar nicht."
Und wie das geht! Trautmann steht bei jeder Flanke in der Luft, räumt ab, grätscht und spielt den ein oder anderen öffnenden Ball. Die Bischofswerdaer Stürmer sehen keinen Stich, wenn sie an ihm vorbei wollen. Und als Trautmann selbst umgesenst wird, das Knie nach irgendwohin knickt und er mit erhobenen Armen fällt - auf der Bank schlägt man sich vor Schreck die Hände vor die Augen -, schiebt sich der Muskelhaufen stöhnend zusammen und richtet sich wieder auf. Thiel, einst selbst aus dem Dynamo-Nachwuchs, sieht Gelb, läuft zu Trautmann zurück und steckt ihm die Hand entgegen. Unser Anhang kreischt:
"Thiel, du Arschloch! Thiel, du Arschloch!"
Simek und andere rütteln wie Besengte am Zaun, Sille brüllt:
"Kiel, du Arschloch!"
Sille brüllt immer Unsinn, weil er keinen kennt - und Trautmann reicht Thiel die Hand. Er steht wie ein Denkmal, die Bandage voller Dreck, und verzieht keine Miene. Beherrscht, fast stoisch, sein Blick über Thiel hinweg. Noch heute sehe ich ihn genau so, scharf geschnittene, gleichmäßig und horizontal geführte Augenbrauen, ein Schimmer Zorn über seiner langen, geraden Nase, leicht geöffneter Mund mit vollen Lippen über erhobenem Kinn. Ganz eindeutig Pavel Kortschagin, "an der Stelle des Todes gestanden und wieder zum Leben zurückgekehrt". Jeder muss "Wie der Stahl gehärtet wurde" in der Achten lesen. Sille findet Lesen scheiße und zog sich lieber den Film rein, Fronzke ließ sich freiwillig eine Fünf geben, "anstatt mir die Ferien mit diesem Müll zu versauen", aber ich liebte diesen Roman und vergötterte Kortschagin. Überhaupt, ein Faible für Gerechte und Helden hatte ich schon immer, ob Janosik, Held der Berge, oder Chingachgook aus dem Fernsehen, ob Widerstandskämpfer, nach denen unsere Schulen und Plätze heißen, oder eben der Sowjetheld. Simek, der "solchen Russen-Mist überhaupt nicht anfasst", analysiert bei einem Disco-Bier meine Befindlichkeiten, zieht tief Lunge, presst langsam aus, kneift die Augen zusammen und murmelt:
"Dein Problem ist, dass du dich ständig nach einer Zeit sehnst, die du nie erlebt hast. Guck ma geradeaus und ändere hier was."
"Und was zum Beispiel?"
"Das weiß in dem Scheiß-Land glaube ich keiner."
"Dann behalt dein Gequatsche für dich!"
Dynamo gewinnt 3:2 und Trautmann spielt 90 Minuten durch.
In der Straßenbahn zurück zum Stadtrand bin ich es, der es zuerst ausspricht.
"Ich bin dafür, dass wir einen Trautmann-Fanclub gründen."
"Yeeaah, The Trautmänns - from Empor Tabak to Dynamo!'", grölt Sille, der britischen Punk ins Plenum eingeführt hat und regelmäßig neue Kassetten aus Berlin mitbringt, und setzt zu einem Vortrag über...
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