Nicht nur in Studien zeigt sich immer wieder: Es gibt erstaunlich viele Menschen, denen es gelingt, schwere Schicksalsschläge zu bewältigen oder trotz widriger Umstände glücklich und erfolgreich zu leben. Sie sind resilient.
Ann S. Masten, eine Pionierin auf dem Gebiet der Resilienzforschung, bezeichnet Resilienz als "ganz normales Wunder", das sich in alltäglichen Prozessen entwickelt. In ihrem Buch fasst sie das verfügbare Wissen über Resilienz zusammen, beschreibt die wichtigsten Modelle und erläutert, was in Forschung und Praxis getan werden kann, um Resilienz zu fördern.
"Niemand versteht so viel von Resilienz wie Ann Masten. Und niemand anders schreibt darüber so klug, tiefgründig und klar." - Alicia F. Lieberman
Ann S. Masten, PhD, Professorin an der University of Minnesota. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit sind kindliche Entwicklung und Resilienz.
2. Resilienzmodelle
Um zu sehen, wie Resilienz unter natürlichen Gegebenheiten auftritt und wie man sie in Interventionsstudien mobilisieren kann, braucht man Forschungsmodelle, Methoden und Strategien. Jede Herangehensweise lässt sich in eine von zwei klar voneinander abgegrenzten Gruppen oder als Mischform klassifizieren und beinhaltet immer eine Vielzahl analytischer Modelle (Masten 2001). Bei personenfokussierten Studien werden Personen mit einer vermutlich resilienten Lebensgeschichte identifiziert und auf Indizien für Ressourcen oder Schutzprozesse untersucht, die eine Erklärung für ihre Resilienz liefern könnten. Dieser Ansatz umfasst Einzel- oder aggregierte Fallstudien von passiv beobachteter Resilienz, Untersuchungen von einzelnen Menschen und ihren Veränderungen über einen längeren Zeitraum sowie die Erforschung von Resilienz erzeugenden Interventionen für Menschen mit einem Risiko in Bezug auf schwere Anpassungsprobleme.
In variablenfokussierten Studien untersucht man die in variablen Gruppen auftretenden Muster empirisch, testet sie statistisch und verknüpft die gemessenen Attribute der Personen, ihrer Beziehungen und ihres Umfelds mit deren Erfahrungen. Auch hier ist das Ziel, herauszufinden, was ausschlaggebend für Resilienz ist und wie sie funktioniert. Die mit diesem Ansatz getesteten Modelle korrelieren die Gefahren mit spezifischen Ergebnissen und berücksichtigen dabei potenziell einflussreiche Attribute oder Prozesse im Menschen, in seinen Beziehungen, Ressourcen oder Interaktionen mit der Umwelt, die als Gründe für die unterschiedlichen Ergebnisse infrage kommen. Seit man neuerdings zur Untersuchung der Gemeinsamkeiten bei langfristig auftretenden Verhaltensmustern hoch entwickelte Statistikinstrumente verwendet, gibt es auch Mischformen, die Eigenschaften der personen- und variablenfokussierten Methoden miteinander kombinieren.
Beide Ansätze haben Vor- und Nachteile (Luthar 2006, Masten 2001). Personenfokussierte Studien liefern aussagekräftige und fesselnde Fallbeispiele und erfassen die Resilienz in ihrer Ganzheitlichkeit. Sie folgen der vernünftigen Sichtweise, dass als resilient gilt, wer sich im Gesamten auf vielfältige Weise anpasst, aber nicht unbedingt in sämtlichen Bereichen auch erfolgreich ist. Demnach würde jemand, der ein Trauma überlebt hat und in der Schule oder im Beruf Erfolg hat, aber Familienangehörige misshandelt, nicht als resilient bezeichnet werden. Personenfokussierte Ansätze respektieren außerdem die empirische Evidenz, dass Hauptmerkmale der Resilienz oder damit assoziierte Schutzfaktoren häufig gemeinsam, aber, wie es scheint, nicht zufällig auftreten. Das lässt vermuten, dass hier vielschichtige Anpassungssysteme am Werk sind, wo das Ganze größer als die Summe seiner Einzelteile bzw. untrennbar mit seinen Komponenten oder Prozessen verbunden ist.
Will man spezifische Prozesse oder Schutzfaktoren auf bestimmte Aspekte des adaptiven Funktionierens hin testen, sind variablenfokussierte Strategien besser geeignet. Da diese mit schon lang etablierten und leistungsfähigen multivariaten Techniken arbeiten, hat man sie bis vor Kurzem für statistische Tests von Resilienzmodellen bevorzugt. Nun haben Fortschritte in der personenfokussierten Forschung und deren Instrumenten zu neuen, spannenden Methoden geführt, die die Komplexität menschlichen Verhaltens im Kontext erfassen. Sie beachten nicht nur die Ganzheitlichkeit des Menschen im Lauf der Zeit, sondern ermöglichen auch eine feinmaschigere Analyse, was wann und für wen einen Unterschied ausmacht. Dafür werden in diesen Methoden die auf individueller Unterschiedlichkeit basierenden und statistisch aussagekräftigen Informationen des variablenfokussierten Ansatzes mit berücksichtigt (Bergman & Magnusson 1997, Nagin 1999).
2.1 Personenfokussierte Resilienzmodelle
2.1.1 Der Einzelfall
In der Geschichte der Resilienzwissenschaft wird oft berichtet, dass die Motivation zur Erforschung dieses Phänomens durch die Lebensgeschichten junger Menschen ausgelöst wurde, denen es gelungen war, große Widrigkeiten zu bewältigen. Die ersten Wissenschaftler, die Kinder mit einem Risiko (in Bezug auf Fehlanpassung oder psychische Probleme aufgrund von Widrigkeiten oder Nachteilen) untersuchten und mehr erfahren wollten, waren meist Psychologen und Psychiater. Zu ihnen gehörte auch Norman Garmezy (1982), der in seinem Artikel "The Case for the Single Case" den heuristischen Wert von Einzelfallstudien erläuterte.
Einzelfallstudien zur Resilienz sind meist Biografien oder Autobiografien von Menschen, die tatsächlich eine außerordentliche Vielfalt an Widrigkeiten beschreiben, aber auch Erfolge - minuziöse Chronologien, die zeigen, wie reichhaltig und vielschichtig das Leben ist. Wie Sie an den folgenden Beispielen sehen, verlaufen resiliente Lebenswege selten geradlinig oder einfach. In der leuchtenden Prosa ihrer autobiografischen Serie, die mit Ich weiß, daß der gefangene Vogel singt beginnt, schildert Maya Angelou (1983) das komplexe Auf und Ab ihres Lebens. Sie berichtet, wie sie als Afroamerikanerin in den USA aufwuchs und was sie alles ertragen musste: die Trennung von den Eltern, Vergewaltigung und Armut. Eine von Entbehrungen und Widrigkeiten gezeichnete Kindheit hat auch Oprah Winfrey überstanden, eine der erfolgreichsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der amerikanischen Unterhaltungsbranche. JoAn Criddle (1998) berichtet in ihrem nach einem Slogan der Khmer Rouge benannten Buch To Destroy You Is No Loss von dem fünfjährigen Überlebenskampf eines jungen Mädchens namens Thida Butt Mam und deren Familie, die nach der Eroberung von Phnom Penh nach Thailand flüchteten. Antwone Fishers Autobiografie Finding Fish - Vorlage für einen mehrfach ausgezeichneten Film - erzählt die bewegende Vergangenheit eines Mannes, der seine Kindheit in Heimen und bei Pflegeeltern verbrachte, missbraucht wurde und wiederholt Verluste erlitt, bis er schließlich zur Marine ging. Dort traf er auf einen Psychiater, mit dessen Hilfe er seinem Leben eine neue Richtung geben konnte (Fisher & Rivas 2001). Der Film Homeless to Harvard zeigt die Geschichte von Liz Murray, Tochter drogenabhängiger Eltern, die mit 15 Waise wurde, völlig mittellos war, ein Harvard-Stipendium der New York Times gewann und nach ihrem Studienabschluss im Jahre 2010 die Autobiografie Breaking Night veröffentlichte (Murray 2011). Elizabeth Smart wurde entführt und neun Jahre in meist notdürftigen Unterkünften gefangen gehalten, immer wieder angekettet und vergewaltigt. Sie litt Hunger und lebte in ständiger Angst, bis sie endlich gerettet wurde. Zehn Jahre später berichtet sie über dieses Trauma und die anschließende Wiedervereinigung mit ihrer Familie, die Umgewöhnung an das Leben zu Hause und den Prozess ihrer Entführer (Smart & Stewart 2013). Heute ist sie verheiratet und Präsidentin einer Stiftung, die sich um Kinder kümmert, die Opfer eines Verbrechens wurden.
Mein Mentor Norman Garmezy hielt solche Fälle für sehr wertvoll, weil sie der Veranschaulichung von Resilienz dienten und neue Forschungsideen anregten. In seinen Vorlesungen sprach er gerne über resiliente Menschen, von denen einige berühmt, die meisten jedoch unbekannt waren. Eine seiner Lieblingsgeschichten hatte er in einem Lokalblatt aus dem Jahre 1978 entdeckt. Ein elfjähriges Mädchen - ein Fan der fiktiven Detektivin Nancy Drew - war entführt und im Kofferraum eines Autos eingesperrt worden. Doch wie ihre Heldin bewahrte sie in dieser scheinbar ausweglosen Situation die Ruhe und schaffte es, sich zu befreien, indem sie ein Rücklicht auseinandernahm (Garmezy 1982). Gerne erwähnte Garmezy auch eine historische Berühmtheit, deren Vater ihre Mutter getötet und die von ihrer Halbschwester im Tower von London gefangen gehalten wurde. Diese Frau wurde später zur Königin gekrönt und hieß Elisabeth I.
In einer seiner Schriften nimmt Garmezy (1985) Bezug auf einen Beitrag, den Manfred Bleuler - Sohn des Mitbegründers der Psychiatrie, Eugen Bleuler - für einen Band über die ersten Risikostudien (Watt, Anthony, Wynne & Rolf 1984) verfasst hatte und der vom "paradoxen Fall" der Verena Maurer handelt. Diese hatte eine schwierige Kindheit und Jugend gehabt, weil ihr Vater alkoholabhängig und ihre Mutter schizophren war und sie ihre jüngeren Geschwister so gut wie allein versorgen musste. Bleuler blieb in Kontakt mit ihr und erlebte, wie aus ihr eine gesunde und glückliche Ehefrau und Mutter wurde. Seinem Eindruck nach verfügte sie über keine besonderen Begabungen und war zu Aufgaben berufen, die ihr gut gelangen, Spaß machten und am Herzen lagen.
2003 las ich im Alumni-Magazin der University of Minnesota einen Artikel über die Lebensgeschichte von Michael Maddaus (Broderick 2003). Er war in einer chaotischen, von Alkoholismus und Gewalt geprägten Familie aufgewachsen, als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geraten und dann aber ein erfolgreicher Chirurg geworden. Dr. Maddaus repräsentiert den klassischen Fall des "Spätzünders", der am Übergang zum Erwachsenenalter - also in einer Phase, in der sich bei entgleisten jungen Menschen Resilienz abzeichnen könnte (Masten, Obradovic & Burt 2006) - doch noch die Kurve kriegt. An der Schwelle zum Erwachsenenalter, wenn das Gehirn und dessen Funktionen entsprechend ausgereift sind, sind viele Menschen motiviert, zukunftsorientiert und planungsfähig. Zeitgleich stützt die Gesellschaft oft das positive Wachstum durch Angebote wie höhere Bildung, Wehrdienst oder Lehrstellen sowie die gesetzliche Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit über das eigene Leben (Masten, Obradovic et al. 2006; Masten et al. 2004).
Mit der...