Lisa I
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Wir spazierten durch den Stadtpark mit einem romantisch gelegenen Teich darinnen. In seiner Nähe nahmen wir Platz und schauten den Enten nach, die sich auf dem Gewässer tummelten.
'Das hier erinnert mich immer wieder an einen Ententeich in meiner alten Heimat.'
'Du hast mir ja schon so manches aus deiner alten Heimat erzählt. Auch von deiner Flucht von dort. Das waren allerdings immer nur Bruchstücke. Ich würde gerne mal die ganze Story hören.'
'Mein lieber Rainer, das ist keine erfreuliche Geschichte. Ich möchte eigentlich nicht mehr daran erinnert werden.'
'Ich verstehe.'
Wir schauten weiter den Enten nach. Mehrere Erpel machten einer Ente hinterher, die sich den ungestümen Annäherungsversuchen ihrer Verehrer kaum zu erwehren wusste. Rainer musste beim Anblick dieses triebhaften Geschehens lachen. Ich fand das gar nicht lustig. Zunächst nicht. Schließlich musste auch ich mal lachen. Rainer nutzte sogleich die gute Stimmung aus und kam noch mal auf meine Flucht zu sprechen.
'War deine Flucht wirklich so schrecklich? Gibt es da gar nichts anderes zu berichten, etwas, was vielleicht doch lustig war? So wie hier mit den Enten. Das fandest du am Schluss doch auch lustig? Jedenfalls hast du mal gelacht.'
'So eine Flucht ist alles andere als lustig, mein lieber Rainer. Ich möchte wirklich nicht darüber sprechen.'
Eine Flucht mit dem Treiben von Enten zu vergleichen, das war schon ein schräger Gedanke. Und Lustiges in diesem Zusammenhang nicht minder schräg. Also gab es da auch nichts zu erzählen.
Die Abendnachrichten im Fernsehen holten uns wieder ein. Bilder von Flüchtlingsströmen und Schicksalen liefen einmal mehr über den Bildschirm. Jedes Mal schauderte es mich beim Anblick solcher Berichte. Rainer hingegen fühlte sich eher gelangweilt.
'Immer und immer wieder flüchten und diese Flüchtlinge! Und die Kerle haben wir anschließend dann in Deutschland.'
'Neben dir sitzt auch so ein Flüchtling.'
Rainer schaute mich mit großen Augen an. Wir waren wieder beim Thema. Ich beschloss, meinen Widerstand aufzugeben und meinem Mann doch noch von meiner Flucht zu berichten. Er hatte ja keine Ahnung, was so eine Flucht für die Betroffenen bedeutet. Ich holte tief Luft und nun bekam er doch noch seine Story.
'Es begann an einem recht heißen Sommertag. Ich saß mal wieder auf meiner geliebten Bank mit Blick auf den großen Teich - nicht einen Ententeich. Von einer kleinen Düne voller Strandhafer und Dornengewächse schaute ich herab auf das weite Meer. Eine endlose Weite, fast bis hinter den Horizont. Es wehte eine sanfte Brise, eine willkommene Erfrischung an einem heißen Tag. In diese Idylle mischten sich fröhliches Vogelgezwitscher und leichtes Meeresrauschen. Hier waren die Gedanken frei. Und wann immer mich Probleme und anderes Ungemach plagten, stets fand ich mein Seelenheil an diesem Ort des Friedens, der mir auch an jenem Tag einmal mehr meinen inneren Frieden wiedergeben sollte.
Rita, meine beste Freundin, gesellte sich zu mir. Oft verbrachten wir unsere Freizeit miteinander. Und nicht selten, wenn sie mich daheim nicht antraf, wusste sie mich auf dieser Bank, inzwischen schon unsere gemeinsame Bank. So auch an diesem Tag. Sie stellte ihr Rad neben meins und nahm Platz.
'Als ich bei dir daheim anschellen wollte', so eröffnete Rita das Gespräch, 'sah ich, dass die Tür bereits offen war. Also ging ich ins Haus. Dort traf ich auf deine Eltern, die sehr beschäftigt zu sein schienen. Es hatte lange gedauert, bis sie mich bemerkt hatten. Deine Mutter war richtig erschrocken, als sie mich so plötzlich entdeckte. Dein Vater brummelte etwas, was ich nicht verstehen konnte. Sie sahen geradezu so aus, als hätte ich sie bei etwas ertappt. Und immer wieder rannten sie aus dem Haus und luden etwas ins Auto. War schon seltsam das Ganze. Aber ich denke mal, ich hätte ja auch anklopfen oder mich anderweitig bemerkbar machen können.' Sie machte eine kurze Pause. Dann meinte sie noch: 'Du sagst ja nichts. Ist was mit dir?'
'Was soll schon sein? Ich bin halt heute nicht so gut drauf.'
'Und warum? Hat das einen besonderen Grund? So niedergeschlagen wie heute kenne ich dich ja gar nicht.'
'Is nix. Gar nix,'
'Doch, doch. Da ist doch was. Also, was ist mit dir? Du weißt doch, dass wir uns alles sagen können. Und wollen. Das hatten wir uns doch mal geschworen. Oder? Jetzt fängst du auch noch an zu weinen.'
Rita war eine Seele von Mensch. Sie nahm mich in den Arm und streichelte mir übers Haar. Dann brach es aus mir heraus.
'Die ganze letzte Zeit hatte ich das Gefühl, dass etwas mit meinen Eltern nicht stimmt. Meine Mutter guckte mich oft so seltsam an. Fast traurig. Mein Vater ging mir aus dem Weg. Und oftmals flüsterten sie miteinander und wenn ich dazutrat, schauten sie fast verlegen drein. Was ich befürchtet habe, die ganze letzte Zeit: Die wollen abhauen, in den Westen abhauen.'
'Da wären sie ja nicht die Ersten. Die Haverkamps sind neulich auch abgehauen. Ich stand mit anderen an der Bushaltestelle. Und als einer dort, wohl jemand, der sie gut kannte, fragte, wohin sie denn so flott unterwegs seien, da meinten sie nur: 'Wollen auch mal ein bisschen in den Westen abhauen.' Alles an der Haltestelle lachte. Keiner hatte auch nur im Geringsten gedacht, dass das hätte die Wahrheit sein können.'
'Ansonsten hätte auch keiner gelacht. Republikflüchtige sind doch geächtet. Und sollten sie es wagen, später mal zu Besuch zurückzukehren, Feindseligkeit wird ihnen ins Gesicht schlagen.'
'Also, was deine Eltern betrifft, vielleicht habe ich mich da ja auch geirrt', so merkte Rita noch an. 'Klar doch, ich bin mir da fast sicher. Warum es da allerdings so viele in der letzten Zeit in den Westen zieht, kann ich gar nicht verstehen.'
'Ich auch nicht, Rita. Wir hören doch ständig im Radio, was die Leute dort erwartet: Praktizierter Kapitalismus. Die Menschen werden ausgebeutet. Und Armut allenthalben. Neulich soll sogar das Fernsehen gezeigt haben, wie da Menschen unter Brücken hausen. Und dann auch noch die vielen Elendsviertel. Richtig schrecklich das Ganze.'
'Richtige Ausbeuter sind das, diese Kapitalisten. Die stecken zum Beispiel Frauen in Häuser, wo die sich verkaufen müssen. Bieten sich den Männern dort für Geld an. Das Geld kriegen aber nicht sie, sondern ihre Arbeitgeber.'
'Ist wie in den Fabriken. Die Arbeiter dort sehen auch nicht viel von dem Geld, das sie dort erarbeiten. Aber meine lieben Eltern nennen das alles Propaganda. Und in dieses gelobte Land zieht es sie jetzt hin. In diesen 'goldenen' Westen. So, und jetzt fahre ich heim und stelle mich der Wahrheit. Meine Eltern sind garantiert weg. Kommst du mit?'
Auf dem Küchentisch fand ich einen Zettel, geschrieben mit zittriger Hand.
Liebe Lisa,
wir konnten dir nicht ins Gesicht sehen. Deshalb haben wir uns heimlich davongemacht. In einigen Wochen wirst du nachkommen und dann sind wir wieder eine glückliche Familie. Bis dahin alles Gute.
Deine Eltern.
Rita ließ sich den Zettel zeigen. 'Oh weh', meinte sie nur. Dann nahm sie ihre Freundin in den Arm. Nach einer Weile seufzte sie: 'Und was soll jetzt werden?'
Ich gab darauf keine Antwort, wusste ich doch am allerwenigsten, was nun werden sollte. Rita ging dann auch bald und ich begab mich zu dem einzigen Wesen, das mir noch geblieben war, unser Hund Harras. Er hatte sogleich gespürt, was mit mir los war, und hing sich an meine Fersen, wohin auch immer ich ging. Warum nur hatten meine Eltern mich nicht mitgenommen? Warum hatten sie mich so herzlos allein zurückgelassen? Das heißt, so allein war ich ja eigentlich nicht. Da gab es doch noch die zwei Angestellten, also eine Magd und einen Knecht. Diese beiden, also der Anton und die Margit, hatten an diesem Tag ihren freien Tag gehabt. So war es meinen Eltern möglich gewesen, unbehelligt das Weite zu suchen. Und am nächsten Tag würde man ja auf mich treffen und keinen Verdacht schöpfen. Denn wer lässt schon sein Kind allein zurück! Und jetzt wurde mir mit einem Schlag bewusst, warum ich zurückgelassen wurde. 'Und was wäre gewesen, wenn ich daheim geblieben wäre und mich nicht auf meine Bank verzogen hätte?' Darauf wusste ich keine Antwort. Dann fiel mir doch noch ein, dass sie mich gefragt hatten, ob ich an diesem heißen Tag nicht zum Meer hinausfahren wolle, um zu baden oder ganz einfach nur die kühle Brise zu genießen.
Ich habe trotz allen Ärgers und aller Enttäuschung stets meine Eltern in Schutz genommen und Anton und Margit zum Beispiel in dem Glauben gelassen, dass meine Eltern zu einem Kurzurlaub aufgebrochen seien und einer ja das Haus hüten und deshalb daheim bleiben müsse. 'Bis die beiden und all die anderen Belogenen diese Lüge bemerken, sind deine Eltern schon lange über alle Berge.' So sagte ich mir.
Eine Woche, eine lange einsame Woche, war bereits ins Land gegangen und ich hatte noch nichts von meinen Eltern gehört. Und nach einer weiteren Woche ohne jegliche Nachricht von ihnen begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen. Hatten Sie überhaupt das rettende Ufer erreicht? Waren sie vielleicht an der Grenze aufgegriffen worden und saßen jetzt ein in einem der ungemütlichen DDR-Gefängnisse in Bautzen oder anderswo, zusammen mit all den anderen Republikflüchtigen? Und doch versuchte ich, mir Mut zu machen. Rita war da eine wahre Hilfe. 'Weißt du, was ich denke, Lisa, deine Eltern lassen erst einmal eine gewisse Zeit verstreichen, ehe die was von sich hören lassen. Wenn erst einmal Gras über die ganze...