Schweitzer Fachinformationen
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Walter Rönckendorff sitzt am Abend des 16. Januar 1919 an einem kleinen Tischchen in seinem Hotelzimmer in der Kantstraße in Berlin. Es ist nicht kalt draußen, aber grau, und es regnet leicht. Seine Stimmung ist gedrückt. Ihn quälen Schmerzen nach einer Operation. Doch das ist noch eher ein geringes Problem. Im gerade erst zu Ende gegangenen Weltkrieg war er, der Berufssoldat, die meiste Zeit an der Westfront in Frankreich, später auch im Baltikum. Mehrere Jahre lang war er immer wieder in den befestigten Stellungen und Schützengräben im Einsatz. Er ist achtmal und zum Teil schwer verwundet worden und ein weiteres Mal bei einem Gasangriff, den er fast nicht überlebt hätte. Die schlimmste Verletzung hat ihn im August 1918 bei einem Granateneinschlag in unmittelbarer Nähe ereilt. Monate hat er im Lazarett in Frankenhausen in Thüringen verbracht, und als er entlassen wird, ist er alles andere als geheilt. Eine größere Wunde am rechten Bein wächst nicht wieder zu, sein ganzes weiteres Leben leidet er unter dieser offenen Wunde, die immer größte Hygiene und Pflege braucht und ihn mit nie endenden Schmerzen quält8. Nur für sehr kurze Zeit noch schließt sich Walter Rönckendorff einem Freikorps im Baltikum an, doch scheidet er aus diesem bald wieder aus. In diesen Tagen jedoch muss er in Berlin zwei Operationen an der Nase über sich ergehen lassen, was ihm Schmerzen bereitet und ihn sehr einschränkt9.
Während Walter Rönckendorff mit seinen gesundheitlichen Problemen kämpfte, tobte um ihn herum in Berlin der Spartakusaufstand. Rönckendorff war die Regierung Ebert/Scheidemann alles andere als sympathisch. Für ihn war mit dem Ende des Weltkriegs eine Welt zerbrochen. Monarchie, Adel und das Militär waren die Koordinaten seines Weltbilds. Nun tobten in Berlin die blutigen Kämpfe zwischen bewaffneten Kräften der USPD, der KPD und des Spartakusbundes auf der einen Seite und Regierungstruppen und Polizei auf der anderen. Es hatte Hunderte von Toten und Verwundeten gegeben, Besetzungen von Zeitungsgebäuden, Geiselnahmen, die Situation drohte völlig aus dem Ruder zu laufen. Walter Rönckendorff soll, hieß es hinter vorgehaltener Hand in der Familie, an der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 im Hintergrund in irgendeiner Weise beteiligt gewesen sein. Seiner Mutter schreibt er dazu in seinem Brief vom 16. Januar 1919, dass mittags die Nachricht "vom schrecklichen Ende der Luxemburg und [des] Liebknecht" bekannt geworden sei10. Die Stimmung in der Bevölkerung "gegen diese beiden Leute" sei in letzter Zeit furchtbar gewesen, sodass "ein solches oder ähnliches Ende" für ihn, Walter Rönckendorff, offenbar nicht überraschend kam. Er dürfte jedoch gesundheitlich zu angeschlagen gewesen sein, um auch nur im Hintergrund eine Unterstützung geleistet zu haben. Auch erscheint es eher unwahrscheinlich, dass dieser Soldat alter Prägung und großer Bildung sich an einem auf kollektivem Hass basierenden Mordkomplott beteiligt haben könnte.
Joachim Heinrich Campe, 1825
Walter Rönckendorff stammte aus einer angesehenen Braunschweiger Unternehmerfamilie. Seine Vorfahren waren Hoteliers und Weinhändler, Verleger und Chemieunternehmer, aber eine ganz herausragende Position, geradezu die eines familiären Übervaters, hatte Walter Rönckendorffs Ururgroßvater Joachim Heinrich Campe11. Dieser intellektuelle Vordenker, Sprachforscher, Schriftsteller, Übersetzer und Pädagoge prägte nicht nur das Geistesleben Deutschlands im ausgehenden 18. Jahrhundert, sondern schuf auch mit dem an Daniel Defoes Robinson Crusoe angelehnten Jugendroman "Robinson der Jüngere" und seinem Buch "Briefe aus Paris" literarische Bestseller, die über Jahrzehnte zu den meistverkauften Büchern zählten. In seinem Buch mit den Briefen aus Paris, geschrieben an seine Tochter Charlotte, das einzige leibliche Kind neben mehreren Adoptivkindern, schilderte Campe seine Reiseerlebnisse aus den ersten Tagen nach dem Ausbruch der Revolution in Frankreich 1789. Als die Nachricht vom Volksaufstand Braunschweig erreicht, ist Campe wie elektrisiert. Er alarmiert seinen ehemaligen Schüler Wilhelm von Humboldt12 und bricht mit diesem schon am nächsten Tag nach Paris auf, um die Revolution als Augenzeuge mitzuerleben. Seine Tochter Charlotte heiratet später den Braunschweiger Verleger Johann Friedrich Vieweg, der unter anderem mit der Herausgabe von Goethes Versepos "Hermann und Dorothea" einen spektakulären Verkaufserfolg landet. Deren gemeinsame Tochter Bertha Vieweg ehelicht Johann Franz Rönckendorff, einen Braunschweiger Weinhändler13.
Der Ehe von Walter Rönckendorffs Großeltern Bertha Vieweg und Johann Franz Rönckendorff war aber kein Glück beschieden. Der Weinhändler kam in wirtschaftliche Schwierigkeiten, ließ die Familie schon kurz nach der Geburt der beiden Kinder im Stich und seine Spur verliert sich um 1850 in Australien. Der kleine Sohn Joachim Heinrich Eduard Rönckendorff, der Vater von Walter Rönckendorff, war zu diesem Zeitpunkt erst ein Jahr alt, seine Schwester Marie Charlotte Elisabeth gerade sieben Jahre. Bertha Vieweg musste ihre beiden kleinen Kinder also allein großziehen.
Als Joachim Heinrich Eduard Rönckendorff erwachsen war, heiratete er Elisabeth Buchler, die einer Braunschweiger Industriellenfamilie14 entstammte. Nach den beiden Schwestern Bertha und Ilse wurde Walter Rönckendorff im Jahr 1883 als drittes Kind der beiden geboren. Die Familie lebte damals in Bad Nauheim, wo der Vater eine chemische Fabrik betrieb, die Magnesium herstellte. Auch seiner Mutter Elisabeth widerfuhr dasselbe Schicksal wie der Großmutter, auch sie musste ihre drei Kinder ohne den Ehemann großziehen, denn Joachim Heinrich Eduard Rönckendorff verstarb im Alter von nur 34 Jahren, als Walter erst ein Jahr alt war.15 Da es rechtlich vorgeschrieben war, bekamen die Kinder einen männlichen Vormund in der Person des kinderlosen Braunschweiger Foto- und Optikfabrikanten Friedrich Wilhelm von Voigtländer. Walter wuchs in Braunschweig mit seinen beiden älteren Schwestern behütet und ohne finanzielle Sorgen glücklich auf. Schon als Schüler las er gern und viel. Walter war ein ernstes Kind, ruhig und schon damals diszipliniert. Im Herbst 1903 besteht er am Herzoglichen Neuen Gymnasium das Abitur.
Elisabeth Rönckendorff, geb. Buchler, mit ihren drei Kindern Bertha (von Kalm), Ilse (Woermann) und Walter Rönckendorff, ca. 1897.
Der weitere Werdegang des Walter Rönckendorff dürfte der Mutter einiges Kopfzerbrechen bereitet haben. Walter konnte schon wegen des Lehrplans des Gymnasiums, bei dem Latein und Griechisch im Mittelpunkt standen, keine erkennbare Begabung in den Naturwissenschaften entwickeln. Die kaufmännischen und unternehmerischen Erfahrungen in der Familie waren keineswegs überzeugend, und Walter zeigte wenig Interesse daran, Arzt oder Jurist zu werden. So muss er selbst oder jemand anderes in der Familie eine militärische Laufbahn zur Sprache gebracht haben; Walter wurde Fahnenjunker im Infanterieregiment Prinz Friedrich der Niederlande (2. Westfälisches) Nr. 15 in Minden. Das war ein sehr vornehmes Regiment, und wer hier Soldat sein wollte, musste über nicht geringe finanzielle Mittel verfügen. Den Briefen Walters an seine Mutter ist zu entnehmen, dass regelmäßig Bälle, Jagden, festliche Umzüge und viele weitere Veranstaltungen stattfanden. Bei den Bällen ist "alles zu finden, was in Minden auf der Flöte bläst" schreibt er der Mutter.16 Der junge Mann genießt das Flair solcher Anlässe und die Kameradschaft unter den jungen Soldaten. Der Mutter schickt er regelmäßig seine Wäsche und drängelt, dass sie diese gewaschen und mit etwas zusätzlichem Geld möglichst bald zurückschicken möge. Sein geliebter Hund Bob ist nur zeitweilig bei der Mutter in Braunschweig, meistens aber bei ihm in der Kaserne. Dass er die Ausbildung erfolgreich absolvierte, zeigt sich auch daran, dass er im Oktober 1908 nach Potsdam zum Preußischen Lehr-Infanterie-Bataillon abkommandiert wird, wo er an vielen kaiserlichen Paraden teilnimmt oder diese anführt. Walter Rönckendorff ist groß, sehr groß für die damalige Zeit und schlank. Mit seinen fast zwei Metern Körpergröße überragt er alle anderen Soldaten und bietet sich förmlich an als Zugführer, auch bei Routineanlässen wie dem sonntäglichen Marsch zum Kirchgang.
Walter Rönckendorff, Preußisches Lehr-Infanterie-Bataillon, Potsdam 1909
Minden war in anderer Hinsicht für Walter Rönckendorff von ganz besonderer Bedeutung. Denn in Minden dienten auch Einheiten aus der Königlich Württembergischen Armee,17 und in der taten gleich fünf Brüder aus der Familie von Haldenwang in Stuttgart ihren Dienst. Otto, Arthur, Hermann, Richard und Max von...
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