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Ein Friedhof war kein guter Ort zum Scheißebauen, aber dafür hatten die Jungs und ich ja den Rest der Stadt.
»Und wo müssen wir jetzt hin? Lass mich bloß nicht allein! Hier verläuft man sich ja.« Jarno spuckte auf den Boden, was ich irgendwie blöd fand, aber er machte das ständig. Wir nannten ihn nur Jörn, denn Jarno, das war nun wirklich kein normaler Name. Beim Aussprechen verrenkte man sich glatt den Kiefer, darauf hatten die anderen und ich keinen Bock.
»Einfach mir nach«, sagte ich. »Ist noch ein bisschen.« Jarno rückte sein Basecap zurecht. Neben seinem Ohr lugte ein Stück von der Stelle hervor, wo sie ihn letztens genäht hatten. Der Typ vom Wachschutz hatte sich dort mit seinem Schlagstock verewigt. Und sich danach fast in die Hose gemacht, als ihm Engel, unser Senior, seine Knarre an den Kopf gehalten hatte. Zur Klärung der Situation sozusagen.
Ich kannte den Friedhof gut, aber ich kam nach wie vor nicht gern her. All die Toten. Lagen hier einfach so unter der Erde. Friedlich, oder vielleicht stinksauer, wer wusste das schon. Die Steine auf ihren Gräbern gaben wenig preis: wie alt sie geworden waren, in welcher Zeit sie gelebt hatten, vielleicht der Beruf und irgendein Spruch, der die Hinterbliebenen tröstete. Die Größe vielleicht noch ein Hinweis, wie es mit der Kohle ausgesehen hatte.
Mein Vater war einer von ihnen. Wirklich mehr als über all die anderen, die hier lagen, wusste ich über ihn aber auch nicht. Immerhin, jetzt im Frühling war der Südfriedhof eine echte Wucht. Bäume und Büsche blühten in den prächtigsten Farben; Pflanzen, die es nirgendwo sonst in der Stadt gab und von denen ich auch keine Ahnung hatte, wie sie hießen, säumten die Wege. Überall wuchs Rhododendron, meterhohe Sträucher mit Blüten, die wie Bälle aussahen. Diesen einen Namen hatte ich mir mal gemerkt, auch wenn ich noch immer nachschlagen musste, wie man ihn schrieb.
Die Anlage war mehr Park als Friedhof. Riesengroß und fast romantisch, an manchen Stellen zumindest. Ich nahm an, dass hier auch jede Menge berühmter Leute lagen.
Der Pfad ging in einen Weg über, auf dem sich Risse durch den Beton zogen, geformt wie die Äste von kahlen Bäumen. Wir liefen an Gräbern vorbei, eingezäunt von kleinen, rostroten Gittern. Von Gestrüpp überwucherte Grabsteine, auf denen man die eingravierten Namen nur noch erahnen konnte. Weiter hinten gab es richtige Tempel, die Ruhestätten ehemals sicher reicher Säcke. An anderen Stellen des Friedhofs standen die Gräber dagegen dicht an dicht, Felder aus kleinen Kreuzen, Steinen und Statuen.
»Für Engel überlegen wir uns diesmal was richtig Mieses, okay?«, sagte Jarno und kratzte sich, bewusst oder unbewusst, an der langsam abheilenden Wunde. Sie hatte ein bisschen was von einem großen Tausendfüßler, der ihm über den Kopf huschte. »Geht mir mordsmäßig auf die Eier, dass der immer mit den dreckigen Ideen daherkommt, selbst aber mit Samthandschuhen angefasst wird.«
»Noch angepisst?«, fragte ich. Jarno zog die Nase hoch und spuckte wieder auf den Boden.
»Ach, geht«, sagte er. »Aufgabe ist Aufgabe. Nur ungerecht, dass es gerade unser Opa immer so leicht hat. Weil wir so nett sind.« Er grinste, aber seine Augen blieben hart. »Timo hat Einspruch erhoben. Er ist dagegen, Engel zu . wie hat er gesagt? Ach ja, zu provozieren.« Jarno nahm das Basecap ab, fuhr sich durch die Haare und setzte es wieder auf. »Was für ein Scheiß.«
»Bin dabei«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass die Reihe nach Engel an mir war. Ein hartes Ding für ihn könnte ein dreimal so hartes für mich bedeuten. Das Ganze lief so ab: Drei von uns überlegten sich, was derjenige, der dran war, für eine Mutprobe zu leisten hatte. Immer nacheinander: Timo, Jarno, Engel und ich. Das machten wir jetzt schon seit Jahren. Je älter wir wurden, desto fieser wurden die Dinger allerdings. Zu nicht kleinen Teilen lag das an Engel, der sich mit seinen Vorschlägen meistens durchsetzte. Und ohnehin immer bekloppter wurde. Jarno grinste, diesmal war es ein zufriedenes Grinsen.
»Auf dich ist Verlass, Sascha«, sagte er. »Sind wir dann jetzt bald mal da? Das macht mich irgendwie fertig hier.«
»Vor dem Pavillon nach links«, sagte ich. »Und was du dich überhaupt beschwerst. Gehen wir zu deinem Vater oder zu meinem?« Jarno murrte etwas, das ich nicht verstand.
»Hast ja recht«, sagte er dann. »Sorry.« Von dem betonierten Weg führte ein wieder schmaler werdender Pfad über ein Stück Wiese. An dieser Stelle des Friedhofs sahen die Gräber fast alle gleich aus, die ordentlich aufgereihten Grabsteine eher unscheinbar, doch das meines Vaters konnte ich trotzdem schon von Weitem erkennen. Ein Stück daneben tappte eine Krähe über das Gras, schlug kurz mit den Flügeln, als wollte sie vor Jarno und mir davonfliegen, und hüpfte dann hinter einen Baum.
»Tja, da wären wir«, sagte ich. Auf dem Grabstein meines Vaters war nicht viel zu lesen, Geburts- und Sterbedatum und sein Name. Ich verband nicht viel mit diesem Ort. Vielleicht, weil er schon so lange tot war. Ich nur das Gefühl der Leere kannte, nicht das Gefühl des Verlusts. Trotzdem hatte es immer etwas Beklemmendes, hier zu sein. Als wäre hier doch noch irgendetwas von ihm da. Etwas, das von diesen drei, vier Quadratmetern Wiese nicht wegkonnte und mich immer etwas vorwurfsvoll ansah, weil ich mich so selten blicken ließ.
»Na dann«, sagte Jarno und tippte wie zur Erinnerung an die Blumen in meiner Hand. Ich riss das Papier ab, das meine Mutter um den Strauß gewickelt hatte.
Alles Gute zum Geburtstag, sagte ich in Gedanken. Eine Weile stand ich nur so da, das Papier, das im leisen Wind raschelte, in meiner linken Hand, die Blumen in meiner rechten. Ich hoffe, dir geht es gut. Wo auch immer du gerade bist. Ich hätte gern noch was Tiefsinnigeres angefügt, doch mein Kopf blieb leer. Jarno schwieg, die Hände in den Hosentaschen. Ich lehnte den Strauß an den Grabstein, bemüht, nicht auf die Fläche direkt davor zu treten. Die Blumen rutschten ein wenig, blieben aber stehen.
Wie heute hatte bei der Beerdigung die Sonne geschienen. Es war warm gewesen, schon am Morgen, und die Erwachsenen hatten geschwitzt in ihren schwarzen Klamotten. Ansonsten wusste ich nicht mehr viel von diesem Tag. Ein paar Erinnerungen, Standbilder, praktisch nichts Zusammenhängendes. Aber diese eine Sache, die war nie wirklich weggegangen. Dieses Gefühl, das sich schwer beschreiben und schwer begreifen ließ, zumal wenn man es als so kleiner Junge erlebt hatte. Eine Art Wut, auch wenn es das nicht ganz traf. Ich hatte einfach nicht verstehen können, warum um uns herum ein so schöner Tag war, warum die Sonne strahlte und die Vögel sangen - wenn wir doch traurig waren. Es war schwer gewesen, mit dieser Entrüstung, diesem Zorn oder was auch immer umzugehen. Und die Erwachsenen, die an mir herumgetätschelt hatten, von Beileid oder Anteilnahme gefaselt hatten, obwohl ich gar nicht wusste, was das sein sollte, hatten mir nicht im Geringsten geholfen.
»Na los, Keule«, hörte ich plötzlich Jarnos Stimme. »Die Toten brauchen uns nicht.« Er boxte mir in die Schulter, sanft, für seine Verhältnisse zumindest. Wahrscheinlich hatte er damit sogar recht. Wahrscheinlich brauchten die Lebenden die Verstorbenen mehr. Ich schloss die Augen, merkte, wie in mir irgendwas emporstieg, etwas, das den Hals eng und das Atmen schwer machte, und öffnete sie schnell wieder. Ich hatte noch nie geheult, außer als Knirps vielleicht, da würde ich jetzt bestimmt nicht wieder damit anfangen. Jarno spuckte auf den Boden, immerhin Richtung Weg, nicht Richtung Grab.
»Ist wohl so«, sagte ich. Hinter uns neben einer Bank stand ein rostiger Abfallkorb. Ich knüllte das Papier zusammen und warf es hinein. Jarno streckte sich. Wir liefen eine Allee entlang zum Ausgang. Durch die Bäume konnte man das Völkerschlachtdenkmal sehen. Von oben hatte man einen großartigen Blick über die Stadt. Letztens hatte ich Jacky mitgenommen, als wir an einem Sonntag mal wieder allein gewesen waren, und war ganz stolz gewesen, wie sie die ganzen Treppen mit ihren kleinen Beinchen geschafft hatte.
»Wieso hat deine Mutter das Gemüse eigentlich nicht selbst gebracht?«, fragte Jarno, während wir den Weg entlangschlurften, Wölkchen aus Staub unter unseren Schuhen.
»Doppelschicht«, sagte ich. Wie so oft, wenn sie den Nachmittag gern frei gehabt hätte, fügte ich an, auch das nur in Gedanken. »Sind schon wieder alle krank, oder was weiß ich.«
»Krankenhaus eben. Wie der Name schon sagt.« Jarno grinste, aber ich sparte mir, auf seinen müden Witz zu reagieren. Am Osttor vom Messegelände, wo das große Doppel-M stand, trennten wir...