Und dann waren sie die in der zunehmenden Dämmerung sich langsam verändernden Wege des Gartens entlanggeschritten. Erst den ganzen dunklen Zypressengang hinab, zwischen den beiden Reihen riesiger, uralter, den Berg emporklimmender Trappisten dahin, die einer wie der andere die Kapuze hoch über den Kopf gezogen hatten und, ihrem Gebote getreu, stumm den Rosenkranz beteten. Wie sie aber von unten, von jener kleinen, halbverwachsenen Tür mit den verrosteten und vermorschten Riegeln, die auf den Feldweg hinaus mündete, wieder zu dem Gartentempel in der Höhe am Ende der Zypressenallee hinaufblickten, zu dem Apollo von Belvedere, den der Urahne sich einst von einem Lieblingsschüler Canovas hatte kopieren lassen, da war alles Süßliche, das wie einen Zuckerguß Canovas Lieblingsschüler einst vor hundert und etlichen Jahren über ihn gegossen hatte, von ihm gewichen. Es blieb nur der alte, stolze Heidengott, der Gott der Sonne, der Pest, der Schlachten und der Lieder, der einst in seiner lichten Bronze, selbst wie eine Sonne, aus der erdenen Form stieg, schön, jung und sieghaft, ja vielleicht ganz nackt auch, ohne den flatternden Mantel um die Schultern, den Rom ihm erst umhing, als man Jahrhunderte später die Bronze in die Kühle des Marmors umdachte. Jetzt aber, auf die Weite von hundert Metern hin, angeglänzt von einem allerletzten magisch-goldigen Licht, das sein Zuckerweiß tief und schweflig verfärbte, da waren Jahrtausende weggewischt, und er war wieder in feuriger Bronze der alte Gott aus Delos, hoch, übermütig, unverwundbar selbst, der in die Reihen der armen Sterblichen seine nie fehlenden Pfeile hinabsandte, die Pest, Glut der erbarmungslosen Sonne und Tod in den Schlachten zugleich waren.
»Oh, sehen Sie, Signor Roberto, wie schön er ist, mein Gott, denn eigentlich sind wir hier doch alle noch Heiden!« meinte Modesta Zamboni. »Aber kommen Sie, wir wollen hinaufgehen, von der Ebene zieht eine leichte Feuchtigkeit bis hier herauf. Ich fürchte das Umido sehr. Man bekommt leicht Fieber; vor allem«, setzte sie mit ihrem stets ganz plötzlich aufzuckenden grünen Blitz in den Augenwinkeln hinzu, »wenn man ein Inglese ist.«
Und langsam gingen beide wieder durch die Parkdämmerung, die schweigend duftete - sonst lärmte sie gerade zur Nacht vom Zirpen und Schrillen der Insekten! -, zu dem bronzeleuchtenden Gotte und dem Bau da oben mit seinen überhöhten Flügeln hinauf, der immer noch schweflig von seiner Terrasse ins Land winkte. Eine kurze Weile blieben sie bei Windlichtern in ihrer Halle sitzen, und dann verabschiedete sich Roberto Luigi, wollte sich sogar über Modestas Hand beugen, um sie zu küssen; aber sie entzog sie ihm, nicht unfreundlich und mit jener plötzlichen Härte und Unnahbarkeit wie früher, immerhin doch so, daß er nicht wagte, es zu tun. Trotzdem lächelte sie dabei ihm zu. Und durch das nur matt erleuchtete riesige Treppenhaus ging er hinauf, um noch etwas zu lesen - er hatte sich in den letzten Tagen sogar an Dante gewagt - und um vielleicht jenen Brief an Antonie mit der kleinen Notlüge nun endlich einmal zu beginnen. >Schreiben<, sagte er sich, >bedeutete noch nicht: absenden.< Die Fenster hatte er weit geöffnet (die Zanzaren blieben unten mehr in der Ebene), und einen der Sessel mit den großen geschnitzten braunen Widderköpfen an den Lehnen, mit ihren streifigen, etwas zerschlissenen Seidenbezügen - es waren ja noch die ersten, und wer von uns könnte sich rühmen, selbst in halber Dauer weniger vom Schicksal ramponiert, abgenutzt und zermürbt zu sein? -, den hatte er neben den Schreibtisch mit seinen kleinen geschnitzten braunen Widderköpfen sich gerückt. Gewiß, für Dante hätte es ein alter Florentiner Klappsessel sein müssen, der hier wäre für Stendhal gut gewesen. Aber wie schön es sich doch in einem solchen alten Empiresessel saß, nicht zu hoch, nicht zu tief, nicht so weich, daß man faul wurde, nicht hart, daß man müde wurde. Man konnte die Beine von sich strecken und flegelte sich doch nicht wie ein Amerikaner in einem Klubsessel, saß gerade so, daß man es gar nicht eigentlich merkte und sich doch angenehm entspannte. Wundervolle Zeit, da die besseren Menschen selbst von einem heute so gleichgültigen Ding wie einem Stuhl noch forderten, daß er seinem doppelten Zweck entspräche, ein hübsches Ding für das Zimmer und ein bequemes und angenehmes für seinen Besitzer zu sein. Und wie Roberto Luigi eine Weile gelesen hatte - er wußte nicht, war er durch die Verse so erregt, durch diesen singenden Fluß ineinandergleitender Ottaverimen, oder lag eine unerträgliche elektrische Spannung in der Luft, die ihn so unruhig machte -, da blickte er zufällig vom Buch zum Fenster hinaus und sah, daß über ihm, wie ein Fledermausflügel, eine schwere, schwarze Nacht hing, in der auch nichts mehr zu unterscheiden war. Die dunkle Wolke, die vor einer Stunde noch ganz unbeweglich war und nicht größer, nicht kleiner wurde, war plötzlich da oben wie ein See aus ihren Ufern getreten und hatte mit ihren Fluten von chinesischer Tusche den ganzen Himmel oben, so weit er reicht, überschwemmt und in vollste Finsternis begraben. Aber merkwürdig genug, ganz unten am Horizont schienen in Abständen von halben Minuten, schnell wie Schlangen, Eisenbahnzüge entlangzugleiten, die alle in allen Fenstern erleuchtet waren, sie fuhren nach Bergamo und Brescia, nach Mailand und nach Pavia, zehn Züge zugleich immer wieder auftauchend in einer wilden Hast. Das hatte Roberto Luigi noch nie von hier aus gesehen, sooft er auch des Nachts aus dem Fenster geblickt hatte. Manchmal warf einer von seiner Ecke aus wie ein Notsignal einen hellen, zuckenden Feuerschein über den Himmel fort. Und auch das Dröhnen der Züge begann man jetzt deutlich zu hören; die Erde brummte und bebte nur so davon.
Plötzlich jedoch, wie Roberto Luigi sich noch überlegte, was das für ein Wettfahren der Züge unten und hinten und rechts und links eigentlich wäre, kam eine Windwucht, eine heiße Welle von unten aus dem Lande herauf, daß durch den ganzen Park ein einziges Knarren und Schreien der gequälten Bäume ging. Im gleichen Augenblick schon riß der Himmel auseinander und brannte über und über hinter dem gespaltenen Wolkenvorhang, und alle Bäume im Garten duckten, bis in das Herz erschrocken, ihre Köpfe in dem grellen Licht dreier Sekunden. Und dann riß der Himmel wieder links und rechts und oben zugleich in schwefligen Fetzen auseinander, und zugleich prasselte auch eine Regenwucht hernieder - man hatte sie einen Augenblick oben in der Luft vorher sausen gehört, mit dem Ton zerplatzender Schrapnells, den Roberto Luigi gut kannte -, eine Regenwucht prasselte dann nicht wie von Gießkannen, sondern als ob der Himmel da oben selbst tausend Feuerspritzen aufgefahren hätte, um seine Brände allein zu löschen. Aber auch der Himmel mit seinen tausend Feuerspritzen war machtlos dagegen, und je mehr er hineinschüttete, desto wilder schossen nur die Funkengarben hervor und zerrissen brüllend die Wolken. Wenn ein Donnerschlag noch nicht vertobt war, überschrie ihn schon der andere von drüben her. Und wenn der schon schwächer wurde (und ein dritter begann), hörte man immer noch das Echo des ersten hinter sich aus den Bergen nachgrollen. Aufruhr gab's da oben! Revolution! Kein kleiner Putsch etwa, nein, ein richtiges 1790: die Aristokraten an die Laterne ... an die Laterne! Laterne!! Laterne!!! Und immer noch war es drückend, glühend heiß, es war Atem eines Hochofens um Roberto Luigi, trotz der stürzenden Regenmassen. Der Gesang des Inferno, den er eben gelesen hatte, war mit dreihundert Versen in die Wirklichkeit gesprungen. Aber wie Roberto Luigi den Kopf etwas drehte, da durchzuckte es ihn weit mehr als alle Blitze da draußen, denn er war nicht mehr allein. Modesta Zamboni stand neben ihm und griff angstvoll nach seinen Schultern, um sich an ihn zu klammern: »Signor, o Signor«, sagte Modesta ganz leise und sehr verschüchtert, »ich habe Lionella wecken wollen ... sie hört nicht ... Es ist also doch zu etwas gut, wenn man taub ist.« Sie hatte ihr Haar schon halb geöffnet, nur noch einmal wieder hochgesteckt, aber trotzdem hing es noch über eine weiße, ärmellose seidene Jacke - ein peitschender Roßschweif von Schwarz. Und die Schultern, Brust und Arme, rosig und lichtbraun, waren breit und bloß und von der Unerhörtheit jener Antike, die der Archäologe verachtet, weil in ihr alle Sinnlichkeit Form geworden ist und weil sie seine Begriffe sprengt, aber die ihn bis in seine tiefsten Träume verfolgt und der er immer, wie zur Strafe, weil er sie lästerte, hoffnungslos und unerwidert verfallen ist. »Oh, ich habe Angst, Signor Inglese ... alle Toten kommen wieder, Mario und Casandrino ... Liebster, wir dürfen kein Licht brennen. Sie werden uns finden und mit Blitzen erschlagen ...«
Wirklich, Modesta war wie von Sinnen und ihre Augen voller Tränen. Und draußen brüllten Regen und Wind und Donner, als ob sie sich stritten, wer den längeren Atem hätte, immerzu, immerzu. Und die Blitze zischten dazwischen: lauter, viel lauter, noch lauter! Wirklich, es war schon ein Unwetter, wie es der Norden nicht kannte, von einer fast tropischen Wut. Und man begriff, warum in diesem Lande der Blitz das Machtsymbol des Höchsten der Götter einmal werden konnte, gewaltiger noch als der der Erde und des Meeres mit seinen Wellentürmen, ja als die Sonne, die tötende und lebenspendende, als Nacht und Tag, die Zeit, die Weisheit und die große Mutter Fruchtbarkeit. - >Casandrino? Ein Vetter, eine Jugendliebe? Wer kann es wissen?< schoß es durch den Kopf Roberto Luigis. Und dann standen beide eng aneinandergepreßt im Dunkeln, das nur alle zehn, zwanzig Sekunden von dem blauen Licht der Blitze augenschmerzend zerrissen wurde. Und alles, was Luigi in vier Wochen an Beteuerungen und...