Kapitel III
Inhaltsverzeichnis Da waren - also um 1844 - zuerst einmal die Herren Offiziere in Potsdam in den Garderegimentern: übermütige Adelssöhne, die meist nur warteten, daß die Väter ihnen Güter kauften oder vererbten oder daß sie Güter erheirateten, und die solange näselnd, geschnürt, mutwillig und gelangweilt auf die »Kanaille« schimpften und versuchten, mit der vielen freien Zeit und mit dem vielen rollenden Geld auf angenehme Art fertig zu werden.
Man hätte nun glauben können, daß hier, wo der Adel so häufig war wie die Brennessel, die hinter jedem Zaun wächst, man keine besondere Achtung vor ihm hatte - aber gerade im Gegenteil: seine Massenhaftigkeit ließ seine Bedeutung anschwellen. Und doch fühlte er sich nicht gerade wohl dabei. Denn die Lücken, die die französischen Kanonaden von einst hineingerissen hatten, waren längst wieder geschlossen, und nur schneckenlangsam rückte wieder der einzelne aufwärts zu höheren Chargen. Ein neuer Krieg, der etwa wieder die Bahn für viele frei machen würde, war nicht zu erwarten. Ach, man war ja so müde des ewigen Durcheinanderwirbelns, man war ja so froh, die Landkarte irgendwie wieder in Ordnung zu haben! Man war in Europa wie in einem Lazarett: Die Kranken, abgetrieben und ausgeblutet, hatten keinen anderen Wunsch als den, sich gesund zu schlafen. Viel Lorbeeren waren da jetzt beim Kriegshandwerk nicht zu ernten.
Da waren dann weiter die Herren von der königlichen Regierung, welche der Meinung waren, daß ohne ihre Tätigkeit das revolutionäre, unterwühlte Preußen auseinanderfalle wie ein Fuder Heu, das der Wirbelwind packt. Und die deshalb, weil sie das immer wieder verhinderten, so viel Hochachtung vor sich selbst hatten und vor den Titeln, die sie in feiner Abstufung - je nach der Dauer ihres Dienstalters - ihrem Namen zufügen durften, daß sie meinten, Militär wäre für sie doch kaum der geeignete Umgang. Und noch weniger die Herren in der Oberrechnungskammer, da am Kanal in der Patronentasche.
Und da waren dann die Herren von der preußischen Oberrechnungskammer, die wiederum der Ansicht waren, daß ohne sie der Staatsbankrott unausbleiblich wäre. Und weil sie wie der Geist Gottes über den Wassern schwebten, nach hier und dort blitzten, anfragten beim Landgericht in Eylau, wo die drei Dutzend englischen Stahlfedern hingekommen wären, die noch in der letzten Aufstellung des Inventars sub A I 329 figuriert hätten, und weil sie beim Rentamt in Düsseldorf monierten, daß sie in der Abrechnung den Erlös für die Siegellackreste vermißten - auch waren sie Sachverständige für die größere oder kleinere Abmessung des Devotionsstriches, den man den einzelnen Behörden und deren Vertretern zu bewilligen hatte -, ja, wie sollten da die Herren von der Oberrechnungskammer nicht für sich bleiben? Wie sollten sie da etwa mit den Herren Offizieren oder denen von der Regierung verkehren - wenn sie es selbst gekonnt hätten!
Und fürder waren in Potsdam Hofbeamte und Obergärtner und so fort. Und die waren der Meinung, daß die persönliche Berührung mit Mitgliedern des königlichen Hauses, wenn nicht gar mit dem Monarchen selbst, es ausschlösse, daß sie sich so weit vergaßen, etwa mit Leuten näheren Umgang zu pflegen, die dieser Huld nicht teilhaftig wurden.
Und die Lehrer am Seminar und am Gymnasium, und was sonst irgendwie zur Wissenschaft in Beziehung stand, waren darauf bedacht, daß nicht etwa Leute jenseits des Xenophon, von anderer und natürlich geringerer Bildungssphäre ihre Kreise störten - nein, sie hielten darauf, unter sich zu bleiben.
Und endlich erst die Bürgerschaft! Die ließ nicht gerne jemanden auf die Erdbeermuster ihrer Teppiche, in ihre guten Stuben, der nicht hier in Potsdam mit Havelwasser getauft worden war oder der zum mindesten doch in Potsdam zuerst die Zimmerwände angebrüllt hätte, ohne deshalb gerade auf Havelwasser und dessen frühzeitige Verwendung besonderen Wert zu legen - oder daß, selbst wenn er sich zum Havelwasser bequemt hätte, es seine Väter schon getan hatten. Aber das mußte eben schon so sein, denn sonst wären die Kreise gar zu klein gewesen.
Gott, wer gehörte denn eigentlich noch recht zur Bürgerschaft! Kaum zwanzig, dreißig Familien. Das übrige zählte nicht, waren Handwerker, kleine Leute, Arbeiter, Menschen, die zuerst die Mütze zogen. Und auch die zwanzig, dreißig Familien waren nicht mehr das, was sie ehedem waren. Nach dem Krieg war kaum eine wieder recht hochgekommen. Und wenn der alte Samuel Schön nicht damals Häuser gekauft hätte - damals, als sie soviel Hunderte von Talern kosteten, wie sie Tausende wert waren: am Kanal, in der Schockstraße, in der Großen Fischerstraße, in der Nauener Straße und am Hohen Weg -, wer weiß, ob die Schöns heute noch so daständen. Denn mit dem Geschäft war das doch nicht mehr so wie ehedem, wo hundert Webstühle für sie sich mühten und doch nicht alles bewältigen konnten, nicht alles heranschaffen konnten, was gebraucht wurde. Die Maschinen drüben in England brachten einen nach dem andern zum Stillstand. Natürlich wollte das Eduard Schön nicht wahr haben und der junge Heinrich Schön erst recht nicht. Und sie lebten nun, wie einzig und allein der Großvater Samuel hätte leben können, der für seinen Teil gewißlich nichts wie Arbeit und Arbeit und Arbeit gekannt hatte.
Ja, aber wenn auch jedes fein für sich blieb, so galt das eigentlich doch nur für die Großen, die Wirklichen, die Offiziellen, die Familien. Für die Frauen im Häubchen und mit silbernen Stricknadelscheiden; für die Töchter, die Harfe spielten und die Mode von vor drei Jahren trugen: Rosenkränzchen, wenn man längst bei Strohblumen war, und drei Volants, wenn die Röcke schon längst wieder glatt waren und nur mit Band besetzt. Den Jungen, den Halbflüggen, waren diese Käfige zu eng, und sie sahen sich ganz geheim um, wie es drüben aussah bei den andern, mit denen man eigentlich nicht verkehren durfte und mit denen man jedenfalls sich nicht öffentlich zeigen durfte.
Da kamen zum Beispiel so junge Leute im »Froschkasten« zusammen, so ganz geheim am Spätnachmittag, tranken Dämmerschoppen, tranken Potsdamer Stangen - nicht ganz junge mehr, aber meist so in der zweiten Hälfte der Zwanzig oder um dreißig herum. Jede Gruppe hat ein, zwei Abgesandte geschickt; Delegierte, wie zu einem Kongreß. In Räuberzivil: Offiziere, Rechnungskammerbeamte, Hofchargen, Lehrerschaft, Bürgertum. Maltitz - Karl von Maltitz, irgendeiner von den Maltitzens - hatte sie »die Unmöglichen« getauft. Und wenn er von sich aus exemplifizierte, so war der Name nicht schlecht gewählt.
Da war auch der junge Schön - Heinrich Schön - von den Schöns, die die große Seidenweberei am Kanal hatten und noch überall sonst in und um Potsdam in den Katen Weber sitzen hatten, denen sie Arbeit gaben. Er war nebenbei mit einem Fräulein von Mühlensiefen verlobt und sollte zum Herbst heiraten. Die Tochter vom Rat Mühlensiefen aus der Charlottenstraße war da, der in den dreißiger Jahren unter dem alten König viel gegolten hatte, der aber nun mit als erster unter dem neuen König abgesägt und kaltgestellt worden war und seit der Zeit knurrend wartete, daß man ihn wiederholen müsse, um die verfahrene Karre auf den rechten Weg zu bringen. Wenn er noch im Dienst gewesen wäre, hätte er nie zugegeben, daß eine Tochter von ihm einen Kaufmann nähme. Aber so war es wirklich schon ziemlich gleich.
Und dann war da ein von Winterfeldt, der von den »Laubfröschen«. Es gab mehrere Winterfeldts in Potsdam: bei den Hammeln, den roten Strippenjungen, den weißen Mehlsäcken, bei der Regierung. Aber das war der Egbert von Winterfeldt von den Gardejägern, der mit der Literatur liebäugelte und deshalb politisch bei seinen Vorgesetzten als unsicherer Kantonist galt. Immerhin - Furcht brauchte man seinethalben nicht zu haben, denn ein Winterfeldt weiß schon, was er seinem Namen schuldig ist.
Ja, und dann war da Professor Friedrich Wilhelm Schneider - viel älter als jeder, gerade so alt wie zwei von den jungen Dachsen: der Lehrer von Heinrich Schön und Karl von Maltitz auf dem Gymnasium -, ein vertrockneter schäbiger Junggeselle, ein schwerfälliger Koloß, zäh und ernsthaft, heimtückisch und kleinlich und halb närrisch durch den jahrzehntelangen Stumpfsinn seines Berufs. Sein langer Gehrock - riesig wie eine Sargdecke - hatte alle Moden der letzten Jahrzehnte mitgemacht. Er war schwarz gewesen, als man schwarz trug, und er war schon rehbraun gewesen, wie rehbraun gerade erst wieder aufkam. Und jetzt war er langsam grün geworden, was als das Neueste galt - denn Maltitz trug es. Nur daß die schwarze Halsbinde alle Wandlungen mitgemacht hatte, war nicht ganz stilecht.
Professor Friedrich Wilhelm Schneider schrieb, solange man denken konnte, an einem Buch über die Etrusker und sammelte Pfeifenköpfe. Alle Woche fuhr er einmal nach Berlin - früher - in die königliche Bibliothek; aber in den letzten Jahren war er weniger emsig geworden und reiste nur noch alle vierzehn Tage hinüber, trotzdem es jetzt doch nur ein Sechstel der Zeit kostete wie ehedem. Maltitz behauptete zwar, »Schnöffke« wüßte überhaupt nicht, wo die Bibliothek in Berlin sich befände. Er hätte sich erkundigt: Man kenne ihn dort gar nicht. Und alle acht Tage fragte Maltitz von neuem unbefangen (denn Karl von Maltitz hatte eine böse Zunge), wie es denn eigentlich käme, daß jener die Bücher nicht geliehen erhielte und deswegen stets in die Hauptstadt hinüberfahren müßte.
Aber Professor Schneider erwiderte jedesmal gleich todesernst - und es ist anzunehmen, daß er die Frage von einem zum andern Mal glatt wieder vergessen hatte -,...