Abbildung von: Doktor Herzfeld - e-artnow

Doktor Herzfeld

Georg Hermann(Autor*in)
e-artnow (Verlag)
1. Auflage
Erschienen am 13. Mai 2023
406 Seiten
E-Book
ePUB mit Wasserzeichen-DRM
4066339509115 (EAN)
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Doktor Herzfeld ist von Abend zu Abend Gast in einem Berliner Café. Die hier versammelten Menschen führen intellektuelle Gespräche, die sie von ihrer Einsamkeit ablenken, und der Einsamste von allen ist Doktor Herzfeld. In diesem Roman beschreibt Georg Hermann die Geschichte der jüdischen Bourgeoisie.

Georg Hermann (Georg Hermann Borchardt) (1871 - 1943) war ein deutscher Schriftsteller und ein jüdisches Opfer des Holocaust. Er war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein vielgelesener Schriftsteller. Sein literarisches Vorbild war Theodor Fontane, was ihm auch die Bezeichnung 'jüdischer Fontane' eintrug. Die Romane 'Jettchen Gebert' und 'Henriette Jacoby', die im Berlin der Jahre 1839/40 spielen und ein Bild des liberalen Geistes dieser Zeit in einer jüdischen Familie zeichnen, waren seinerzeit Bestseller und konnten zusammen mehr als 260 Auflagen aufweisen. Georg Hermann war 1909 Mitgründer und 1910-1913 erster Vorsitzender des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, dem bald fast alle prominenten Schriftsteller deutscher Sprache beitraten.
Sprache
Deutsch
Dateigröße
0,71 MB
EAN
4066339509115
Schweitzer Klassifikation
DNB DDC Sachgruppen
BISAC Klassifikation
Warengruppensystematik 2.0

Zweiter Teil.
Schnee


Inhaltsverzeichnis

Kapitel I


Inhaltsverzeichnis

Den ganzen Tag hatte es auf Berlin aus niedrig ziehenden Wolken herabgetropft wie aus einem nassen Badelaken. Es waren schwere Wolken, die dahinschleiften und stets und ständig die Gestalt änderten. Einzelne Nebelfetzen, die sich gelöst hatten oder nur durch dünne elastische Bänder mit ihnen verbunden blieben, versuchten, ob es ihnen nicht gelänge, die Dächer zu berühren, oder ob sie sich nicht wenigstens an den Wipfeln der Pappeln draußen - denn die ragten am höchsten - irgendwie einen Augenblick festhalten könnten.

Also: solche Wolken waren das, wie sie eine Quelle des Entzückens für den Maler bilden mit lehmgelben Lichtern inmitten von tausend Abstufungen, die von Maulwurfsfarben bis zum hauchfeinen, kaum noch lasierten Silbergrau reichen, und die man auf Gemälden über alles gern sieht ... sie fordern zu hastig geistvollen Pinselhieben geradezu heraus - bei einem Ruysdael setzen sie uns in Entzücken, aber selbst bei dem jüngsten Anfänger ist ihr plumpes Widerspiel unseres Lobes sicher - also: (um es schlicht und rund zu sagen) solche Wolken waren das, die, sofern sie, tropfend und schüttend, von früh bis spät ohne Unterbrechung über die Vorstädte einer triefenden, halbdunkeln, glitschigen Großstadt dahinjagen, uns jedes Lebenssinns zu berauben scheinen und uns noch zehnmal unmutsvoller und verzweifelter machen, als wir es ohnedies schon sind ... an solch einem trübfeuchten, von kommender Winterkälte durchschauerten Tage des späten November, ... einem Tage, dessen ihm innewohnende Hoffnungslosigkeit sich einzig dadurch noch zu steigern vermag, daß seit über zwei Jahren die ganze Welt Tränen und Blut weint.

Man wird meinen: was haben diese Wolken mit der Erzählung hier zu tun?! Gewiß soll das wieder nur solch Anfang sein, eine Einführung, ein Auftakt, ein Stimmungsmoment, über das hinwegzulesen Pflicht ist, wie man es von je liebt, und mit dem seit hundertfünfzig Jahren eben alle Schauerromane beginnen: »es war an einem stürmischen Novembertag, ... der Wind fegte die letzten welken Blätter in Wirbeln von den dürren Ästen; ... die Wolken, schwer und schwarz, wälzten sich von Osten her über den Himmel ... und trommelten mit dicken Tropfen auf die Dächer des Faubourg St. Julien ...«

Nein, weit gefehlt: würde es zum Beispiel hier heißen, » ... es war ein müder, seltsam blauer Tag; spät war er hochgezogen, mit einem leise, ganz hauchleise nebelverhangenen Himmel, der doch schon am Vormittag vor der alten Sonne bald völlig und bis in den letzten Winkel klar geworden war; und nun schien er nur von den schönen Erinnerungen an den Sommer zu leben, schien uns vergessen machen zu wollen, daß schon vor vierzehn Tagen die letzten Georginen verblüht, und die letzten spitzen Blättchen von den Weidenruten gestäubt waren. Die Luft, mattblau und durchwärmt, schmeichelte uns vielleicht nur deshalb, damit wir nicht die Schwalben in ihr vermissen sollten. Es war der vierte in einer Kette milder Spätherbsttage, und man fühlte, er dürfte noch eine ganze Reihe von Brüdern im Gefolge haben« ... würde es so lauten, so müßte damit unsere ganze Geschichte hinfällig werden und auf ewig ungeschrieben bleiben.

Stunden, Tage, Wetter, Himmel, Kälte, Wärme, Regen und Sonnenschein, Nebel und Frost sind ja nicht gleichbedeutend für unser Dasein und nicht immer in sich von gleichem Sinn für uns, so wenig wie Tag und Nacht. Es gibt Stunden und Voraussetzungen im Himmel, im Wetter, im Atmosphärischen, für Einkehr in uns selbst, für Erinnerungen, für Liebe und Begehren, für Geborenwerden, für Sterben und Selbstmorde. Ich weiß nicht, ob man darüber Nachforschungen angestellt hat, wann Leute sich verlieben, sich das Leben nehmen, sterben, in welcher Stunde, unter welcher Witterung ... (Beethoven starb während eines Gewitters mit Schneesturm.) In der Ziege des Herrn Seguin heißt es: die ganze Nacht kämpfte sie, mais lorsque le jour arriva le loup la mangea. Sie durfte eben nicht eher sterben als mit dem heraufdämmernden Licht des Tages. Und könnte es in Goethes italienischer Reise gleich zu Anfang anders heißen: als »an einem schönen, stillen Nebelmorgen; die oberen Wolken streifig und wollig, die unteren schwer,« hat nicht Goethe selbst empfunden, daß es nur so und nicht anders sein durfte, als er jene Reise antrat, die einen Knick bedeuten sollte in seinem Dasein?! »Mir schienen das gute Anzeichen,« schreibt er.

Wir ruhen im Atmosphärischen, sind weit tiefer in ihm verankert, weit geheimnisvoller von ihm gelenkt, geschoben und beeinflußt, als wir das ahnen und glauben mögen. Es schafft uns Komplexe unseres Denkens, läßt uns das Dasein heute leicht und jubelnd oder morgen müde und quälerisch empfinden wie eine allzu schwere Last, die wir um jeden Preis von den Schultern werfen müssen. Es drückt uns zur letzten Lässigkeit nieder, und es regt uns zu Taten an, schafft plötzliche Entschlüsse, von denen wir selbst Stunden vorher nichts ahnten. Es setzt uns Zufälligkeiten aus, die eben keine Zufälligkeiten sind.

Und so ich hier von den »Wolken« spreche, so tue ich es also nicht, um meine Geschichte gut einzuführen; nein, diese Wolken hier sind der Beginn, der Schlüssel, die Voraussetzung der ganzen Geschichte, das Wichtigste an ihr. Ohne diese tiefhängenden Wolken eines trübfeuchten Tages am späten November wäre diese Geschichte ganz anders geworden, hätte sich überhaupt nie ereignet.

Und wenn es weiter heißt, daß sich am Nachmittag die schweren Tropfen eben dieser Wolken allmählich in breite, federnde Schneeflocken wandelten, so ist auch das keine nebensächliche Arabeske am Rande unserer Geschichte, sondern gehört zu ihr, ist ihre Wurzel, eine ihrer Bedingtheiten. Erst gab es also Regen und Schnee, dann Schnee und Regen, und endlich nur noch Schnee. In unregelmäßigen Tanzfiguren schwebten die Flocken herab, einzeln und miteinander verklebt. Man konnte meinen, daß von oben unsichtbare Frauenhände Papierfetzen herabstreuten, mal noch in größeren Blättchen, mal mit Sorgfalt zu ganz kleinen Stückchen zerrissen, gerade als ob sie von unwichtigen und von wichtigen Briefen herrührten; denn je wichtiger und persönlicher ein Brief ist, desto kleiner sind ja die Stücke, in die ihn Frauenhände nachher zu zerreißen pflegen.

Liegen blieben sie noch nicht, die Schneeflocken, wenigstens keineswegs überall und durchaus nicht alle; die meisten verschmolzen miteinander auf dem Boden zu einer gelbgrauen Kruste, die unter den Schritten der Menschen mit dumpfen runden Lauten wehklagte, wie wenn jeder Tritt auf einen Frosch träfe; während sich die Wagenspuren, lang, dünn und geglättet, in ihr abzeichneten, und wie mit hohen zwitschernden Fisteltönen um Hilfe riefen.

An einigen Stellen behielt der Schnee aber doch seine weiße, weiche, himmelgegebene Wesenheit. Man konnte nicht vorher bestimmen, wo er es tun würde. Er hatte dafür seine eigenen, geheimnisvollen Gesetze. Er sammelte sich zu weißen Polstern an Zaunwinkeln, um Laternenpfähle, auf der Umhüllung junger Alleebäume, auf den Teerpappendächern von Schuppen und Gartenlauben. In Vorgärten und um Türnischen machte er sich seßhaft. Um die roten Knöpfchen, neben den Weichen im schwarzen Geäst der Schienen hinten auf dem Bahnkörper zog er genau abgezirkelte Kreise. Und über die Bremserhäuschen - nur über Bremserhäuschen, nicht etwa über die Dächer der Güterwagen selbst! - hing er seine dünnen und löcherigen Wolldecken auf. Auf unmerklichen Erhöhungen der Wege und Straßen draußen im Vorort blieb er liegen: so - hier bin ich, und hier werde ich vorerst einmal bleiben, und sollte es auch nur eine kleine Unsterblichkeit von vierundzwanzig Stunden sein. Er bildete seltsame Muster und lustig gezackte Inseln da, und wenn man von oben von den Fenstern herabsah, so krochen die Straßen da draußen - in der Stadt selbst mochten sie schwarz und naß noch sein - mit ihren leichten Windungen ... grau, dunkel und weiß gescheckt ... wie riesige Schlangen dahin.

Jemand, - wir werden uns mit ihm noch näher, und vielleicht mehr zu beschäftigen haben, als uns lieb ist - jemand war also ohne ersichtlichen Grund von seinem Schreibtisch aufgestanden, unruhig und mißgestimmt, seit wohl einer Stunde schon überzeugt von der tiefen Zwecklosigkeit seiner Tätigkeit. Er war eine Weile durch das Zimmer gegangen; hatte sich dann breitbeinig vor die Bücher gestellt, ohne zu entdecken, welches ihn etwa in diesem Augenblick reizen würde, es herauszunehmen (alle waren gerade alt geworden); hatte auf das Schachbrett geglotzt, diese Zufluchtsstätte der Innerlich-deracinierten - und hatte dann sich über die bronzierten Behänge der Zentralheizung geärgert, die ihn immer an Schnüre von Haifischeiern aus dem alten Aquarium erinnerten, und die stets irgendwie in Verwirrung geraten waren, so daß man lange Zeit brauchte, um sie wieder ins Lot zu bringen. Richtig, da waren wieder ein paar von den vergoldeten Haifischeiern aus der Reihe gekommen und hatten sich über die anderen geschoben; er versuchte, sie in Ordnung zu bringen, aber seine Finger waren zu ungelenk und hastig, und er zog nur die anderen, die bisher glatt gesessen hatten, mit in den Wirrwarr hinein, »soll sich morgen die Roggemann 'mit ärgern - was geht's mich an ...,« sagte er sich und ließ die gelben Blechschnüre fahren, daß sie rasselnd durcheinanderfielen und eine Weile mit hellen Metalltönen noch hin und her schwankten, seltsam musikalisch heute. Nein, nicht die Blechschnüre ..., da wurde ja schon wieder irgendwo im Haus Klavier gespielt. Man tat das fast stets, unter ihm oder über ihm. Er...

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