5. Über die eigene Hochsensibilität sprechen
"Man muss mich nicht verstehen. Liebhaben reicht schon."
Arno Backhaus (*1950)
Das Unverständnis für ihre Wesensart, auf das HSP in ihrem ganzen Leben bei vielen ihrer Mitmenschen gestoßen sind, war so oft verbunden mit Kritik, Herabwürdigung und Beschämung, dass für viele von ihnen allein schon der Satz "Ich verstehe dich nicht" verletzend wirkt. Für die eigene Besonderheit die Erklärung Hochsensibilität gefunden zu haben, bedeutet für HSP, sich selbst besser zu verstehen und sich nicht mehr "verkehrt" zu fühlen. Häufig taucht sogleich der Impuls auf, diese Erkenntnis den anderen mitteilen zu wollen, aus dem sehnlichen Wunsch heraus, endlich verstanden zu werden. Sieht man genauer hin, wird klar, dass es im Grunde noch um mehr geht, nämlich darum, ernst genommen und respektiert zu werden, Einfühlung, Wertschätzung und Akzeptanz zu erfahren.
Tatsächlich besteht die Chance, dass all die Reaktionen, Verhaltensweisen und Bedürfnisse, die bei HSP auffallend anders sind, durch die Erklärung des Phänomens Hochsensibilität für andere besser nachvollziehbar und letztlich auch im Miteinander besser handhabbar werden. Dass Missverständnisse und Irritationen weniger, Verständnis und Harmonie mehr werden. Freunde werden zum Beispiel nicht mehr so schnell auf den Gedanken kommen, dass den HSP nichts an der Freundschaft liegt, wenn sie für einige Vorhaben nicht zu begeistern sind, manche Einladungen nicht annehmen oder zwar kommen, sich aber früher verabschieden.
Das Sprechen über die eigene Hochsensibilität hat aber durchaus auch seine Tücken. Kennen Partner:innen, Familienmitglieder und Freund:innen die Hochsensibilität in ihren Facetten und Auswirkungen, können sie den HSP zuliebe die ein oder andere Verhaltensweise (nicht ihr Wesen!) verändern und mancher HSP-gerechten Regelung oder Umgebungs(um)gestaltung zustimmen. Darum zu wissen, was HSP sich wünschen und brauchen, kann für Nicht-HSP allerdings nicht bedeuten, eigene Wünsche und Interessen immer hintanzustellen und nicht mehr engagiert zu vertreten. Langfristig sind nur fair ausgehandelte Lösungen tragfähig.
Sobald andere merken oder vermuten, dass HSP mit dem Argument "Ich bin so sensibel" einseitig erhebliche Zugeständnisse erreichen wollen, reagieren sie mit Abwehr und womöglich Abwertung. Wer die Aussage "Ich bin hochsensibel" gar wie einen Trumpf in der Hand für die rigorose Durchsetzung seiner Wünsche oder als Ausrede für eigene unsensible Verhaltensweisen nutzt ("So bin ich nun mal!"), darf sich nicht wundern, wenn Unmut und Ablehnung die Reaktion sind. Auch das angemessene Sich-Mitteilen eröffnet zwar die Möglichkeit, verstanden und ernst genommen zu werden, ist aber kein Garant dafür.
Trotz all ihres Bemühens, sich zu erklären, wird sich der tiefe Wunsch der HSP, umfänglich verstanden zu werden, nur teilweise erfüllen. Für andere wird die hochsensible Wahrnehmung, zum Beispiel was alles stört und stresst, in ihrem Ausmaß unvorstellbar bleiben. Andere werden sich nach wie vor nicht in die intensive Gefühlswelt hineinfühlen und nicht in die weit verzweigte Gedankenwelt hineindenken können. (Bitte bedenken: HSP können sich ja auch nicht wirklich in robuste Menschen hineinversetzen!) Und sie werden immer wieder etwas unberücksichtigt lassen, was HSP sich wünschen würden, weil sie ebenso wenig wie HSP aus ihrer Haut heraus können, weil auch sie sind, wie sie sind. Nicht-HSP und HSP erleben in einer bestimmten Situation subjektiv eben nicht dasselbe, obwohl die äußeren Gegebenheiten dieselben sind. Hier treffen verschiedene Erlebniswirklichkeiten aufeinander. Die Herausforderung bleibt also, sich gegenseitig mit größtmöglicher Offenheit, Toleranz und Nachsicht zu begegnen.
Mit anderen über Hochsensibilität und damit über mich zu sprechen hat viele Facetten: Im engeren Freundeskreis ging und geht es meistens dann ganz gut, wenn meine Gesprächspartner(innen) selbst ebenfalls hochsensibel sind. Dann erlebe ich Verständnis, wohltuendes Gesehen-Werden, ähnliche emotionale Schwingungen sowie Dankbarkeit, wenn ich auch schriftliche Informationen darüber anbiete.
Hinsichtlich meines Partners waren die Versuche, ihm diese meine Eigenschaft nahezubringen, leider stets enttäuschend. Wie sehr hätte ich mich gefreut, wenn er ein Buch über Hochsensibilität wenigstens auszugsweise gelesen hätte, geht es darin doch um etwas, was mich u. a. im Kern ausmacht. Wie sehr wünsche ich mir VERSTÄNDNIS . (Katinka)
Eigentlich spreche ich nur mit Personen über Hochsensibilität, bei denen ich davon überzeugt bin, dass sie auch zu diesem illustren Kreis zählen. Es gibt immer noch Menschen, die davon nichts gehört haben und denen es somit ähnlich ergeht wie mir selbst über viele Jahre. Während ich bei HSP auf offene Ohren und Interesse stoße, ist mir das bei Nichthochsensiblen zu mühsam und zu anstrengend. Es ist, als müsse man einem Blinden die Farben erklären . Und vielleicht fürchte ich auch, angreifbar zu werden.
Ansonsten thematisiere ich das höchstens mit meinem Partner. Da ist es natürlich anders gelagert, ist er doch ständig mit meiner Hochsensibilität konfrontiert. Ich denke schon, dass er sich bemüht, mit meinem Anderssein umzugehen . mehr oder weniger erfolgreich. (Birgit)
Welche Auffassung Gesprächspartner über Hochsensibilität gewinnen und wie sie reagieren, hängt unter anderem davon ab, wie HSP das Phänomen, ihre persönliche Situation und ihr Erleben beschreiben. Zeichnen sie ein Bild von einem leidgeplagten "Opfer", das wehrlos der Grobheit und Rücksichtslosigkeit der "unsensiblen" Umwelt ausgesetzt ist, wird das allenfalls Mitleid erregen, noch wahrscheinlicher aber Widerstand, weil darin ein Vorwurf mitschwingt. Ganz anders wird die Reaktion ausfallen, wenn sie in neutraler Weise ein Bild von einer Person vermitteln, die detailreich wahrnimmt, intensiv fühlt, vernetzt denkt und durchweg überdurchschnittlich empfindsam und empfindlich ist, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt. Dies wird viel wahrscheinlicher mit Aufgeschlossenheit beantwortet.
Aus Berichten hochsensibler Männer weiß ich, dass es ein besonderer Fall ist, als Mann über die eigene Hochsensibilität zu sprechen, stehen doch die gesellschaftlich tief verankerten Vorstellungen davon, was Männlichkeit bedeutet, im Gegensatz zu den Charakteristika eines hochsensiblen Mannes.
Buchtipp: Hochsensible Männer - Mit Feingefühl zur eigenen Stärke von Tom Falkenstein (2017), Junfermann Verlag
Wenn man als Mann nicht als Mimose betrachtet werden will, beschränkt man Gespräche über die eigene Hochsensibilität besser auf die ganz nahestehenden Menschen und auch dort nur, wo eine echte Offenheit dafür besteht oder Beziehungsthemen es notwendig machen. (Christoph)
Es gibt wenige Freunde, die das mit der Hochsensibilität wissen, weil ich immer das Empfinden habe, dass es überfordert oder Unverständnis hervorruft. (Markus)
Eine Offenheit für das Thema Hochsensibilität stelle ich vor allem bei meinen weiblichen Freunden fest. Unter meinen männlichen Freunden findet das Thema keine besondere Aufmerksamkeit. Männliche Sensibilität scheint mir unter Männern meiner Generation immer noch ein ungeliebtes Thema zu sein, das instinktiv abgelehnt wird. Dennoch thematisiere ich Hochsensibilität gelegentlich auch bei meinen männlichen Freunden, weil sie wissen sollen, mit wem sie es zu tun haben und was mir wichtig ist. (Ingo)
Was für Sie hilfreich sein kann
Warten Sie erst einmal ab!
Ist es für Sie umwälzend, eine Erklärung für so viel bis dahin Unerklärliches gefunden zu haben? Möchten Sie davon am liebsten sofort aller Welt erzählen? Besser nicht! Oftmals ist es klüger, die neu gewonnene Erkenntnis zunächst in Ruhe in sich zu bewegen, bevor man damit nach außen geht. Sonst kann es Ihnen passieren, dass Sie in eine ungewollte Diskussion über die Gültigkeit des Konzepts Hochsensibilität ("Ist das denn überhaupt wissenschaftlich fundiert?"*, "Wieder so ein Modethema!") und einmal mehr in eine unbehagliche Position der Rechtfertigung geraten. Schützen Sie sich davor und festigen Sie zunächst das neue Verständnis für sich selbst.
(*Antwort: Ja, es ist wissenschaftlich erwiesen - siehe z. B. https://www.hochsensibel.org und https://sensitivityresearch.com/de)
Beginnen Sie bei denen, die Ihnen sehr nahe stehen!
Ob Sie über Ihre Hochsensibilität sprechen und wie ausführlich Sie sich und das Phänomen erklären, werden Sie von Fall zu Fall überlegen und in flexibler Weise vom Gesprächsverlauf abhängig machen. Bei der Entscheidung, wem Sie sich offenbaren, kommt es sehr darauf an, welche Rolle jemand in Ihrem Leben spielt und ob Sie davon ausgehen können, auf ernsthaftes Interesse und Respekt zu stoßen.
Ich würde sagen: Lassen Sie Ihren Partner, nahe Familienmitglieder, mit denen Sie in einem vertrauensvollen Kontakt stehen, und engste Freunde relativ zeitnah an der neuen Erkenntnis teilhaben. Das Nicht-Mitteilen von etwas, das Sie sehr beschäftigt und Ihnen viel bedeutet, würde sonst eine gewisse Distanz schaffen. Das Sich-Öffnen und Sich-Mitteilen hingegen ermöglicht eine Verbundenheit und einen fruchtbaren Gedankenaustausch. Noch eine Empfehlung: Führen Sie nicht zu viele Gespräche mit verschiedenen Menschen dicht nacheinander, das könnte sonst durch all das, was damit...