Frühmorgens unterwegs im Centro storico
Brennende Mittagssonne, um mich herum wild gestikulierende Reisebegleiter und dichtes Gedränge vor den Schaustellerbuden. So stand ich als Kind das erste Mal vor dem Florentiner Dom - zwischen Hunderten Touristen aus aller Welt.
An dem Tag begann für mich ein Lebenstraum - obwohl es mir schwerfiel, diesen besonderen Moment zu genießen, denn ich musste ihn in dieser Hitze teilen mit all den anderen Menschen.
Jahre später lebte ich dann in Florenz und machte die Erfahrung, wie schön es sein kann, hier entlangzugehen, wenn die meisten anderen noch schlafen. Wie noch viel eindrucksvoller dieser Platz auf dem Weg zur Arbeit ist. Auch als Tourist lohnt es sich, früh aufzustehen. Nicht nur, um die lange Schlange am Ticketschalter zu umgehen oder als Erster im Museum zu stehen. Vor allem die dann noch unverstellte Schönheit der Stadt zu genießen und dem italienischen Alltag beim Erwachen zuzusehen, ist so wunderbar. Das sonst stets volle Florenz für sich zu haben, durch die Gassen zu schlendern, während gerade die Bars öffnen und die meisten Touristen noch träumen. Fast allein auf der Piazza San Giovanni vor dem Dom zu stehen. Das ist ein Privileg.
Im Morgenlicht zeigt sich das Ensemble aus Dom, Glockenturm und Taufkapelle in seiner ganzen Schönheit.
Den Domplatz einmal ganz für sich haben
Noch bevor die Sonne aufgeht, starten Sie Ihren morgendlichen Spaziergang durch die Altstadt, das Centro storico. Am besten mit dem ersten Ziel: Santa Maria del Fiore. Das ist einfach, denn den Dom sehen Sie sowieso von fast jeder Gasse des Zentrums aus. Die weltberühmte Kuppel ist ein im wahrsten Sinne des Wortes herausragender Orientierungspunkt.
Wenn man auf diesem Platz ankommt, übermannt er einen - im positiven Sinne. Natürlich weiß man, dass die Piazza San Giovanni mit Dom, Baptisterium (Taufkapelle) und Campanile (Glockenturm) das Wahrzeichen von Florenz darstellt. Dennoch: Jedes Mal, wenn ich aus einer der angrenzenden Straßen heraustrete und sich dieser Platz vor mir öffnet, bekomme ich Gänsehaut, und ein schwer zu beschreibendes Gefühl der Ehrfurcht streift durch meinen Körper. Jedes Mal wieder, seit Jahrzehnten. Es ist eine Art Hochachtung, Respekt. Sogar Demut vor der Schönheit, die Menschen konzipieren, erschaffen und über Jahrhunderte bewahren können. Die Piazza San Giovanni ist für mich die Personifizierung der Stadt Florenz.
Nur hat man diesen Platz leider so selten für sich. Mittlerweile ist die Stadt sogar im Winter gut besucht - der hier mitunter übrigens deutsche Dimensionen annehmen und sehr kalt sein kann. Und eben weil die Piazza so berühmt ist, wird sie weltweit auch immer und überall empfohlen - in jedem Blog, jedem Reiseführer, in jedem Buch über Florenz, und meist steht sie bereits im allerersten Kapitel.
Im Winter kann es in Florenz richtig kalt werden.
Selbst meinen Kindern blieb der Mund offen stehen
Und so ist es auch in diesem Buch - mit dem kleinen Unterschied, dass meine wichtige Zusatzempfehlung lautet: Stehen Sie sehr früh auf! Im Herbst und Winter gehen Sie ungefähr eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang los, am besten mit bequemen Sportschuhen. Dann können Sie den Sonnenaufgang auf der Piazza erleben. Im Sommer, wenn die Sonne deutlich früher aufgeht, würde das natürlich ein extrem frühes Aufstehen bedeuten. Das muss nicht unbedingt sein. Morgens um sechs ist es hier auf jeden Fall einzigartig, auch wenn es schon hell ist. Natürlich ist der Domplatz auch schön, wenn man ihn mit zig Touristengruppen aus aller Welt teilt. Aber, glauben Sie mir, es ist kein Vergleich dazu, ihn frühmorgens zu erleben. Allein oder mit seinen Liebsten. Wenn hinter der Kuppel schon die Sonne lauert oder - je nach Jahreszeit - bereits die ersten Strahlen durch die Gassen im Osten des Doms das Gesicht kitzeln. Ich bin dann meist so ergriffen, dass ich gar nicht sprechen möchte.
Als ich meine Kinder zum ersten Mal dazu brachte, dieses Erlebnis mit mir zu teilen, waren sie zunächst überhaupt nicht begeistert, auch noch im Urlaub früh aufstehen zu müssen. Doch als wir ankamen, waren sie sprachlos. Das passiert selten. Mit einem ehrfürchtigen »Wow« staunten sie mit offenem Mund. Zwei Kinder, die kaum etwas wussten über Kunstgeschichte, für die Brunelleschi ein Fremdwort war und Giotto eine Süßigkeit. Zwei kleine Menschen, die auf ganz authentische Weise überwältigt waren von so viel Schönheit auf einem einzigen Platz.
Ein begnadeter Künstler
Wenn Sie also hier stehen zwischen Dom und Taufkapelle, bestaunen Sie zunächst den fast 700 Jahre alten und knapp 85 Meter hohen Glockenturm, den Campanile, ein Meisterwerk Giottos. In einem bestimmten Moment des Sonnenaufgangs, wenn die Sonne von Osten her zwischen Dom und Campanile durchlugt, strahlt die von Ihnen aus linke Außenwand des Glockenturms gelb. Die weiß-grün-roséfarbene Marmorfassade wirkt dann an dieser Stelle wärmer. Was für ein schönes gemeinsames Schauspiel von Natur und Architektur! Wenn dann zur vollen Stunde noch die Glocken erklingen, ist das Kunstwerk perfekt.
Nutzen Sie unbedingt auch die Chance, in Ruhe die Bronzetüren am Baptisterium zu studieren. Auch das ist natürlich kein Geheimtipp, deswegen stehen tagsüber hier die Touristen Schlange, sodass man je nach Jahreszeit nur schwer einen ruhigen Blick auf das Kunstwerk Lorenzo Ghibertis erhaschen kann. Der Goldschmied hat das Nord- und das Ostportal geschaffen. Vor allem Letzeres ist ein Wunderwerk der Reliefkunst und wird nach einem Michelangelo zugeschriebenen Ausspruch »Paradiestür« genannt. Das Original befindet sich seit 1990 im Dommuseum, doch auch die Kopie am Baptisterium hat jede Bewunderung verdient.
DOM-ANEKDOTEN
Der gehörnte Bäcker
An der Nordseite des Doms ist auf einer Stütze ein Stierkopf zu sehen - offiziell eine Ehrung der Tiere, die beim Dombau den Transport der schweren Lasten übernahmen. Doch es gibt noch eine pikantere Legende dazu: Ein am Dombau beteiligter Arbeiter soll der Liebhaber der Frau eines Bäckers in der Gegend gewesen sein. Der Bäcker entdeckte den Betrug und brachte das Paar auseinander. Der Dommitarbeiter jedoch brachte direkt gegenüber der Bäckerei den gehörnten Stierkopf an (als Symbol eines Betrogenen), sodass der Bäcker den Betrug stets vor Augen hatte.
Die gefallene Kugel
Im Januar des Jahres 1600 gab es ein heftiges Gewitter über der Stadt. Plötzlich traf ein Blitz die Kupferkugel auf der Kuppel, die seit 1472 dort thronte. Die Kugel löste sich und fiel hinab auf den Steinboden im Osten des Doms. Kommentarlos zeigt heute noch ein schlichter Kreis aus Marmor die Stelle des Aufpralls und erinnert an diese Nacht. Die Kupferkugel wurde erst 1602 nach der Restaurierung wieder angebracht.
Einmal rund um den Bau herum
Anschließend gehen Sie ein paar Schritte rechts um den Dom herum: Der bloße, unverbaute Anblick der Kuppel ist überwältigend - gerade, wenn der Platz davor leer ist. Es ist ein bisschen wie im Mittelalter, als man die Innenräume der Kirchen oft möglichst dunkel gestaltete. Fenster wurden schmal gebaut, sodass nur wenig Licht ins Innere eindringen konnte. Die Gläubigen sollten von nichts abgelenkt werden und sich aufs Gebet konzentrieren können. Ein bisschen so ist es frühmorgens hier, auch wenn es hell ist: Ist der Platz leer, lenkt einen nichts ab, keine Straßenverkäufer, keine in die Luft gestreckten Regenschirme von Tourist Guides, keine Portraitmaler, keine Menschenmassen. Nur die Straßenreinigung brummt im Hintergrund. Und das einzige, worauf Sie achtgeben sollten, sind vorbeifahrende Lieferwagen, denn zwischen 6 und 9.30 Uhr morgens darf man mit Sondergenehmigung zum Anliefern durch die Fußgängerzone fahren. Zuweilen kommt es mir vor, als hätten ziemlich viele Florentiner diese morgendliche Sondergenehmigung . Also Vorsicht beim Bestaunen der Kuppel, die Autos und Laster sind im Morgengrauen zum Teil recht flott und selbstbewusst unterwegs.
Der Baumeister bewundert sein Werk.
Der Goldschmied setzt sich gegen die Architekten durch
Schon während des Dombaus im 14. Jahrhundert war die Kuppel als die größte der Welt angedacht- nur leider fand sich kein Architekt, der sich den Bau einer so immensen Kuppel mit einem inneren Durchmesser von 45 Metern zutraute. Deswegen klaffte zunächst ein großes Loch über dem Kirchenbau. 1418 wurde schließlich ein Wettbewerb ausgerufen. Die Stadt Florenz als wirtschaftliches und kulturelles Zentrum versprach dem Baumeister Ruhm, woraufhin führende Architekten in die Stadt kamen. Doch das Projekt war von Anfang an begleitet von Zweifeln, Ängsten und Unsicherheiten. Am Ende überzeugte ein an antiken Bauwerken höchst interessierter Goldschmied mit seinem mysteriösen Entwurf: der Goldschmied Filippo Brunelleschi, als Architekt eigentlich ein Laie. Er versprach, die Kuppel gänzlich ohne Stützen und Pfeiler zu bauen. Wie genau, das behielt er zunächst für sich. Zu groß war wohl seine Angst, dass man ihm seine Ideen klauen würde und dass er womöglich wieder, wie 17 Jahre zuvor beim Wettbewerb ums Bronzeportal des Baptisteriums, gegen Lorenzo Ghiberti den Kürzeren ziehen könnte.
Sein alter Widersacher wurde ihm letztendlich zwar als zweiter Bauleiter an die Seite gestellt, doch Brunelleschi war es, der nicht nur die Pläne für die Kuppel lieferte, sondern auch mit zahlreichen technischen Neuerungen die Realisierung des Baus in schwindelerregender Höhe ermöglichte. 16 Jahre später wurde die selbsttragende, aus zwei Schalen bestehende, 107 Meter hohe Kuppel vollendet....