Ein kleines Vorwort des Autors
Eine Biografie, oder überhaupt biografische Texte zu schreiben, wäre mir nie eingefallen, ich bin auch kein Tagebuchschreiber. Ich habe keinen Doktortitel, bin kein Schauspieler, kein Musiker und auch kein Abenteurer. Ich habe nichts Außergewöhnliches geleistet, keine Berge erklommen und auch keine versetzt.
Doch es kam anders.
Eines Tages sandte ich meiner 13 Jahre jüngeren "kleinen Schwester" unserer Patchwork-Familie eine E-Mail, im Anhang eine Gerichtsakte aus dem Jahr 1957. Sie kam zum Vorschein, als ich - aus einer Laune heraus - den Namen meines Vaters gegoogelt hatte. Dieser hatte damals wegen kaum nennenswerter Schulden das Bundesgericht (in der Schweiz die letzte Instanz) bemüht. Sein Fall wurde in der juristischen Literatur zum Präzedenzfall und fand deswegen Aufnahme im Archiv der Universität Bern
So hat es angefangen....
Peter Gnann, geboren 1955 in Schönenwerd, lebt heute in Worb (Schweiz).
2. Auflage 2022
Texte und Umschlag
© Copyright by Peter Gnann
Fotos: pixabay.com
Verlag
Peter Gnann, Alte Bernstr. 54
CH-3075 Rüfenacht BE (Schweiz)
peter-gnann@bluewin.ch
Selfpublishing, Druck und Vertrieb
epubli.de - Ein Service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN 978-3-756511-15-0
Wer ist wer?
MARGRIT und ERNST MEYER-BERGER
Meine Großeltern. Einfache Leute, die als Gehörlose ihr Leben mit Bravour meisterten.
DORA
Meine Mutter. In 1954 ist sie Das Mädchen.
KRYSTINA
Meine Lebenspartnerin seit 1990. Sie starb 2004 mit 48 Jahren. Wir verbrachten beide unsere Kindheit in Schönenwerd, lernten uns aber erst mit 35 näher kennen.
CANDIDO
Mein biologischer Vater. Die Fünfzigerjahre verbrachte er als italienischer Gastarbeiter (wie man damals sagte) in der Schweiz.
MARIA
Candidos dominante Schwester, die "Erstgeborene".
TONI
Mein Ziehvater, Doras Mann seit 1964. Er starb in den Neunzigerjahren.
VINZENZ und ALBERT sind Tonis Brüder,
HERBERT ist sein Schwippschwager. Sie erlebten den Zweiten Weltkrieg sehr jung als deutsche Soldaten. Sie sind alle inzwischen verstorben.
ANDREA
Wir waren Ende der Achtzigerjahre ein Jahr lang zusammen. 2005 lernten wir uns "neu" kennen. Auch sie starb früh mit achtundfünfzig. 2012 hatten wir geheiratet, es war ihr Herzenswunsch. Wegen einer cerebralen Lähmung war sie seit ihrer Kindheit Rollstuhlfahrerin.
DANIELA
Wir waren zu Beginn der Achtzigerjahre ein Paar. Sie wurde leider keine dreißig Jahre alt.
PSEUDONYME
Annemarie, Collini, Ellen, Gina, Hermine Müller-Klettenberg, Ildikó, Irina, Ivo, Johnny Nguyen, Laura, Léonie, Max, Muriel, Nadine, Nassauer, Nevio, Philipp, Sophia, Sven, Tashima,
Tom (Laufenberg), Zoran
Immer Mäuse
Immer Mäuse, sagt Krystina. Unser Radius wird immer kleiner, wir bewegen uns fast nur noch von unserer Wohnung zum Krankenhaus und zurück, Krystina muss drei Mal pro Woche zur Dialyse. Für mich sind es zu Fuß kaum fünf Minuten. Krys geht seit einiger Zeit nach mehreren Rückenoperationen an Krücken, deshalb bringe ich sie fast immer mit dem Auto hin.
Immer Mäuse. Der etwas gespielt traurige Ton macht mir sofort klar, was sie meint. Als wir uns kennenlernten, nannte sie mich Maus, und nach und nach ging dieser Kosename auf sie über, das heißt, ich begann sie Maus zu nennen. Maus, nicht Mausi - um Gotteswillen!
Wo Menschen waren, waren seit jeher auch Mäuse, die ihnen die Nahrung streitig machten. Mäuse sind die kleinsten Säugetiere, sie können sich nicht verteidigen. Katzen, Füchse, Greifvögel stellen ihnen nach, sie können nur flüchten und sich verstecken. Aber egal wie klein ihr Revier ist, mindestens ein Mäusepaar überlebt immer, das sich dann paart und Scharen von Mäusekindern in diese Welt setzt.
Mäuse sind zuunterst, als Labormäuse sind sie die Leibeigenen der Wissenschaft. Auch Krystina ist weit unten, und ich mit ihr. Es ist kein Luxus da. Man wird unsichtbar und hört oft die falschen Töne des Mitleids. Echtes Mitgefühl braucht nicht viele Worte.
Unsere Bedürfnisse sind klein geworden, eine gemütliche Wohnung, ein voller Kühlschrank, was zum Anziehen und die Gesellschaft unserer Katzen reichen uns. Früher gab's Partys, heute unterhalten wir uns vor dem Krankenhauseingang, wo man sich zum Rauchen trifft. Diese Gespräche sind interessanter, da sind Menschen darunter, die wissen, dass sie nur noch wenige Wochen zu leben haben. Das ändert die Gesprächsthemen nicht, philosophiert wird selten. Früher rannten uns Leute die Bude ein, weil sie sich von der Ulknudel Krystina unterhalten lassen wollten. Ich gebe nicht mehr den Pausenclown, sagt sie. Endlich sieht sie's ein. Wenn ich mit ihr zusammenbleiben will, muss ich das mitmachen, ich habe keine Wahl.
Bei Muriel ist es bald so weit, sagt Krys eines Tages. Möchtest du dich nicht von ihr verabschieden?
Ja. Ich gehe hoch, sehe sie im Gang auf einer Transportliege, mindestens drei weiße Kittel um sie herum, die sich ratlos das Kinn reiben. Muriel ist etwa vierzig, sie hat Aids. Ihrer achtjährigen Tochter hat sie nichts gesagt. Kann man über Nacht weiße Haare bekommen? Manche sagen ja, und bei ihr kommt es mir jetzt so vor. In der kommenden Nacht wird sie für immer gehen, und in dieser Nacht wird mir jemand auf die Schulter tippen, in der Dunkelheit auf dem Nachhauseweg. Sie, ja sie, Muriel, hüllt mich jetzt von der andern Seite her in ihre Liebe ein wie in einen wärmenden Umhang.
Bald geht auch Krystina. Sie hat die Nacht im Krankenhaus verbracht, ich habe sie noch am Abend vorher in die Notaufnahme gefahren. Ich will zu ihr, am Mittag, damit sie in den "Katakomben" (so nennen wir die Gänge im Keller, welche die einzelnen Häuser untereinander verbinden) noch eine rauchen kann.
Sie geht nicht mehr zur Dialyse, sagt kalt eine junge arrogante Ärztestimme. Ich schlucke leer, ich weiß, was das heißt.
Wer alles kommt, um ihr Lebewohl zu sagen, weiß ich nicht mehr, gefühlt waren es viele, sehr viele, ein letztes Mal steht sie im Mittelpunkt, seit Langem, es ist das, was sie früher so genossen hat. Ihr Geist ist unglaublich wach, ihre Hände und ihre Füße sind kalt, das Adrenalin hält die Wärme in der Körpermitte. Letzte von der ärztlichen Kunst geschenkte Stunden.
Ich gehe nach Hause, sie ist erschöpft. Bald werden sie mich anrufen, ich weiß es. Bei ihrem endgültigen Abschied hätte ich ihr nur im Weg gestanden.
Dann liegt sie im Sarg, unter dem dünnen, weißen Stoff fühle ich die Holzwolle. Ganz schlank ist sie, die entnommenen Organe stehen jetzt der Wissenschaft zur Verfügung, ein Teil davon soll es bis zur Universität Erlangen geschafft haben.
Ich küsse sie auf ihre kalten Lippen, aber sie ist längst weg.
Das Leben geht weiter, sagt man. So kann Leben auch sein. Die Nächte im Hotel, wo ich als Nachtportier arbeite, sind ruhig wie eh und je. Ich werde mir einen neuen Job suchen müssen, eine neue Wohnung, kann mir aber eine Veränderung nicht vorstellen. Wo ist sie, frage ich mich die ganze Zeit, ist es doch nicht das erste Mal, dass mich Verstorbene besuchen, Muriel war nicht die erste. Wie unter einer Glocke gehe ich durch den Alltag, alles läuft reibungslos ab. Immer Mäuse, denke ich fast immerzu, seltsam, diese Geborgenheit, die ich erfahre, während ich diesen Drang zu überleben und weiterzuleben mit jeder Faser meines Körpers spüre. Die Dezemberkälte verstärkt das noch. Nur einmal schlafe ich vor dem Fernseher ein, er ist etwas laut, und morgens um vier klingelt mich der rothaarige Türke von oben aus dem Bett; Krystina und ich waren überzeugt, dass er seine Frau schlug. Warum bist du nicht früher gekommen, du Arschloch, denke ich, während er da rumkrakeelt.
Er lebt immer noch in dieser Wohnung, nach fast zwanzig Jahren, hoffentlich allein.
Krystina war die ganze Zeit da, endlich merke ich es. Sie muss mich an der Hand genommen und geführt haben, ohne was zu sagen, vielleicht als stummer Schutzengel. Eine total ungewohnte Rolle für sie.
1954
Das Mädchen nahm sich an diesem Donnerstag frei. Sie brauchte niemandem etwas zu sagen, zu Fuß ging sie an diesem nebligen Morgen zum Bahnhof wie an anderen Tagen auch. In Olten nahm sie den Zug nach Basel. Sie war unruhig, suchte in ihrer Handtasche nach Zigaretten. Sie hatte es geschafft, zwei Monate lang der Sucht zu widerstehen. Jetzt spielte das vielleicht keine Rolle mehr. Es gab noch Raucherabteile damals, die Bahnhöfe waren schmutziger. Zigarettenkippen lagen auf dem Boden, und die Unterführungen stanken oft nach Urin.
Die Praxis war nicht weit vom Bahnhof, sie hatte sie schnell gefunden. Der ältere Arzt bat sie freundlich, aber...