L'OUVRE
Nach einigen gescheiterten Ehen und einigen geplanten, aber nicht zu Ende gedachten Weltreisen lebte Patricia allein in einer Wohnung inmitten zerbrechlicher Dinge, die sie sich hielt wie etwas Lebendiges.
Ihr Leben lang war Patricia wunderlich schön gewesen. Zu ihrer eigenen Verwunderung und der der anderen. Mit der Zeit hatte Patricia sich an diesen Umstand gewöhnt. Wenn sie als junger Mensch über die Straße lief und den Blick eines Fremden auf sich spürte, dann erfüllte gar eine große Euphorie ihren Körper. Das Glück von neuen Strümpfen auf ihrer Haut ließ das Mädchen erstarken wie Wasser eine junge Pflanze. Das Spiel eines Ohrrings an ihrem Hals glich der Freude, die in ihr angesichts der Züge eines Gegenübers ausgelöst wurde, die unmerklich zuckten, wenn sie den Blick von der Tischplatte hob. Und auch als Erwachsene war Patricia stets tadellos angezogenen, sorgsam frisiert und hatte mit den Jahren alles Geld, das sie besaß, in ihr Gesicht investiert, sodass es auch heute noch von einer fast unglaubwürdigen Schönheit war. Wenn sie abends nach einem langen Tag allein vor dem Spiegel in ihrer Wohnung saß und eine Locke betastete, dann war da noch immer eine Freude, die kindlich war wie die, die man spürt, fällt einem die Sonne aufs Gesicht, oder der, sieht man eine Katze um eine Hausecke schleichen.
Vor einiger Zeit hatten die Verhältnisse begonnen, Patricia zu entgleiten. Sie hatte den Zeitpunkt sicherlich zehn oder zwanzig Jahre lang aufhalten können, doch das Licht der Sonne und die Stürme der Zeiten waren stärker als Patricias menschliche Konturen. Patricias Lider wurden schwer, ihre Wangen sackten ab, und die Frische, die ihren Blick noch vor ein paar Jahren getragen hatte, verschwamm. Krähen saßen nun auf den Straßenlaternen vor dem Gebäude, in dem Patricia wohnte. Ab und zu sah sie aus dem Fenster zu den schwarzen Augen der Vögel und ihren klickenden, wissenden Bewegungen, während sie hinter den feuchten, bald frierenden Fassaden im Dunkeln in ihrem Bett lag. Die Augen hielt sie offen und folgte ohne Anstrengung den bläulichen Lichtstreifen, die die vorbeifahrenden Autos an die Decke warfen.
Das Klingeln der Tür klang ihr sehr fremd. Es hatte bis zum dritten, vielleicht auch zum fünften Mal gedauert, bis Patricia es überhaupt als solches erkannt hatte.
Patricia zog ihren schmerzenden Körper auf die Beine, stützte sich auf ihren Stock und zog sich, ohne zu große Eile, den unbeleuchteten Gang entlang. Durch das Milchglas konnte sie eine Bewegung erkennen, und als sie mit schmerzenden Fingern den Knauf drehte und die Tür einen Spalt weit öffnete, sah sie schon das Gesicht einer jungen Frau, die mit ihren hellen Augen unschlüssig im schwachen Licht des Flurs blinzelte. Offensichtlich hatte die Frau sich in der Tür geirrt, doch das tat schon in diesem Moment nichts mehr zur Sache, denn sobald Patricia die Tür noch etwas weiter geöffnet und die junge Frau sie erblickt hatte, trat diese einen Schritt in den Gang zurück und brach in schallendes Gelächter aus. Patricia schlug vor Schreck die Tür zu und hörte doch durch sie hindurch die immer leiser werdenden Schübe des Gelächters und den Nachhall der sanften Schritte, bis auch diese ganz verebbt waren und sie nur noch das wattige Klopfen in ihrer Stirn hören konnte.
Patricia stand nun unbeweglich in dem nur vom Laternenlicht erhellten Schlafzimmer. Den Arm hat sie schon gehoben und berührte mit dem Finger das Tuch, mit dem sie den Spiegel verhangen hatte. Sie bewegte es vorsichtig mit dem Finger zur Seite, und das Bild fügte sich wie ein dunkler See vor ihr. Da war der rosafarbene Stoff des Bademantels. Und ihr Kopf, der wie eine vom Sturm zerwühlte Baumkrone daraus hervorragte. Ihr Gesicht konnte sie nicht erkennen, nur einzelne Züge, grob in eine Schlacht aus Papier gezeichnet. Außenrum das graue Haar, das wie ein starrer Heiligenschein zu allen Richtungen von ihrem Kopf abstand. Ihr Gesicht war viel größer, als sie es in Erinnerung hatte, und grobschlächtig wie von jemandem, der jahrelang tief unter der Erde gearbeitet hatte. Ihr Mund war klein und schmal, ein pustelroter Strich inmitten eines blassen, durchfurchten Geländes. Patricia verstand sofort, weshalb die junge Frau gelacht hatte. Eine ganze Zeit lang sah sie sich an, ohne etwas zu tun, dann bewegte sie die Finger zu den zwei tiefen Kerben, die sich links und rechts von ihrem Mund abzeichneten, und schob sie damit auf und ab. Sie hob die Augenbrauen, drückte die Wangen zusammen und stülpte die Lippen nach oben und unten um. Nun begann auch Patrizia zu lachen. Man konnte es noch bis in die Morgenstunden hinein auf der Straße hören.
Die Nachmittagssonne fiel tief und rot auf die Stufen des Caféhauses, die Patricia sich, in einen blauen Pelz gehüllt, hinaufzog. Als man ihr die Tür öffnete, ließ ein Mann, der gerade im Begriff gewesen war, seinen Hut an der Garderobe im Vorraum aufzuhängen, ebenjenen fallen. Köpfe drehten sich und Stimmen flirrten umher, als Patricia den Saal betrat, aber erst, als sie die Mitte des Raums erreicht und ihren Schleier abgenommen hatte, verstummten die Menschen. Nach einem kurzen Moment der Ruhe brach erst ein einzelnes betretenes, dann schließlich markerschütterndes Lachen aus.
Dies war die erste in einer ganzen Reihe solcher Unternehmungen Patricias.
»Cherry Lady«, so nannte Patricia für sich selbst jene Szene, die sie mit Kirschkompott, welches sie mithilfe von Sekundenkleber im Haaransatz und großflächig auf ihren Wangen verteilt hatte, an diesem Tag präsentierte. Zu Beginn hatte Patricia noch mit Details wie dem expressiven Kämmen der Augenbrauen und dem Auftragen dicker, cremiger Farben in den Rissen und Abfahrten ihres Gesichts experimentiert. All das hatte sich ihr gewissermaßen aufgedrängt, und sie hatte schlicht nicht gewusst, was sie noch hätte abhalten sollen. Später war sie dann zu verschiedenen kleinen Manövern übergegangen, die schließlich in der Angelegenheit mit dem Kirschkompott gemündet hatten.
Eine weitere Erprobung, die ebenso gut Wirkung erzielte, war »Das Brathähnchen-Gesicht«. Es bestand aus sehr viel Bronzer. Dazu hatte Patricia ein kleines elektrisches Licht benutzt, um das Ergebnis ihres Aufwands zu beleuchten. Das Resultat war, das konnte man nicht anders sagen, fabelhaft.
Wenn Patricia ein Caféhaus betrat und bereits die Gesichter vor sich in Unsinnigkeit abgleiten sah, die bald schon in Zweifel und dann in Gelächter münden würde, dann erfasste eine innere Flattrigkeit sie, ein Schauer von Glück, ja, Bewunderung oder Gelächter - das eine schien vom anderen gar nicht wirklich unterschieden. Patricia hatte viele Bekannte. Als sie jung war, hatte sie Menschen aus der ganzen Welt in den Caféhäusern der Stadt getroffen. Und auch jetzt traf sie einige dieser Menschen, die allesamt von Patricias Veränderung belustigt waren. Über zahlreiche Essen hinweg amüsierte Patricia ihr jeweiliges Gegenüber mit der Ausgestaltung einer Linie, die von der Stirn über den Nasenrücken bis zum Kinn verlief und die sie mit goldener Farbe vertiefte, sodass sie wie eine Narbe auf ihrem Gesicht prangte und im Glanz der Kerze hold schimmerte. Eine Zeit lang waren diese Begegnungen für Patricia sehr erfüllend gewesen. Doch es dauerte nicht allzu lang, bis sich ein erster Überdruss abzeichnete. Ja, gerade die Bekannten, die zunächst am herzlichsten über ihre abgeklemmten Wangen und die abgeschnittenen Haarsträhnen auf ihrem Nasenrücken gelacht hatten, waren es, die den Treffen mit Patricia immer öfter fernblieben und sie nun mit einem feierlichen Federgesteck auf der Stirn am reservierten Tisch sitzen ließen.
So ging Patricia nach einer Weile dazu über, Hüte anzufertigen. Die Hüte konnte sie einem Publikum auf der Straße zeigen, das sich als deutlich dankbarer erwies. Patricia experimentierte zunächst mit herkömmlichen Krempen, Federn, Broschen und etwas Plunder, doch schon bald wurde ihr auch damit langweilig. Eine Grenze hatte sie vielleicht überschritten, als sie mithilfe einer kleinen Drehscheibe und ausgestopften Geflügelteilen versuchte, einen Hahnenkampf auf ihrer Fedora darzustellen. Man hatte sie abgeführt an diesem Tag. Doch schon am nächsten Tag stand Patricia wieder auf der Straße, ein rotierendes Grablicht auf dem Haupt.
Die folgenden Jahre verbrachte Patricia vor allem auf Straßen- und Jahrmärkten, wo man sie walten ließ, doch nach einiger Zeit erlitt sie, vermutlich verursacht durch die winterliche Kälte, einen Bandscheibenvorfall, der sie an ihre Wohnung band. Es war die Gicht, die Patricia schließlich niederrang. Da sie nun keine neuen Hüte mehr herstellen konnte, war sie darauf angewiesen, die bereits vorhandenen an den Nachmittagen in ihren Fenstern zu präsentieren. Im letzten Licht des Tages wirkten die Hüte besonders eindrücklich auf die Menschen unten auf der Kreuzung. Einmal warf jemand eine Aprikose nach Patricia, doch das machte ihr nichts aus.
Patricia konnte sich bald nicht mehr am...