Schweitzer Fachinformationen
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Sie waren unsterblich - damals, Ende der Neunziger, wütend und voller Aufbruch, drei Jungs und eine Frau, Protagonisten der neuen Gegenkultur aus späten Punks, krassen Künstlern und digitalen Bohemiens. Allen voran Duke, riesiges Schriftstellertalent, genialisch, unnahbar. Jetzt ist Duke tot, zufälliges Opfer eines Raubüberfalls, es ist das Jahr 2014 und Porto Alegre wie paralysiert von der sengenden Hitze und dem Streik.
Am Grab ihres alten Mitstreiters kommen Aurora, Antero und Emiliano zusammen, nach einer gefühlten Ewigkeit wie Fremde. Unweigerlicher Blick zurück: Wie war das früher, und was ist aus ihnen geworden, aus den Idealen, Lebensplänen, Hoffnungen? Und: Wer war dieser Duke wirklich? War er ihr Freund? Oder hat er sie nicht doch bloß für seine Zwecke benutzt? Die immer skurrilere Suche nach einer Antwort führt die drei zu einer Hinterlassenschaft, die so berührend wie erschütternd ist.
Was gibt dem Leben Halt, wenn das Wünschen nicht mehr hilft? Daniel Galera hat einen virtuos agilen, unerschrockenen Generationen- und Gegenwartsroman geschrieben. Über Auf- und Abbrüche, über Ankünfte und Verlorenheiten und über das ungelöste - vielleicht unlösbare? - Geheimnis menschlicher Nähe.
Dieser plötzliche Drang, die Zerstörung der Welt voran-zutreiben, hatte mit dem Gestank von Menschenscheiße auf den Gehwegen zu tun, mit den Dämpfen, die von den Müllcontainern aufstiegen, dem Streik der Busfahrer und der allgemeinen Verzweiflung über die Hitzewelle, die Porto Alegre gegen Ende jenes Januars überrollte, aber wenn es ein Vorher und Nachher gab, einen Bruch zwischen dem Leben, das ich bisher geführt hatte, und dem, das mich anscheinend erwartete, dann war es die Nachricht, dass Andrei am Abend zuvor bei einem bewaffneten Raubüberfall ums Leben gekommen war, in der Nähe des Universitätskrankenhauses, nur wenige Straßen von meinem jetzigen Standort entfernt. Als ich auf Twitter davon erfuhr, blieb ich derart abrupt stehen, dass mein verschwitzter rechter Fuß in der Sandale verrutschte und der Knöchel umknickte, sodass ich auf den heißen Bürgersteig knallte und dabei idiotischerweise den linken Arm hochhielt, um mein Handy zu schützen.
Ein paar Meter weiter wühlte eine Obdachlose in einem Müllcontainer, über den Rand gebeugt wie ein Strauß mit dem Kopf im Sand, während ihre schwarzen Beine und nackten Füße aus einem rosa Faltenkleid ragten. Als sie mein Stöhnen hörte, schlüpfte sie aus der Öffnung heraus, schloss den Deckel und kam auf mich zu. Ich hatte mich inzwischen hingekniet und fummelte an meiner Sandale herum. Sie fragte, ob alles in Ordnung sei, und bot mir ihre Hilfe an, und erst da merkte ich, dass sie ein Transvestit war und feine Löckchen auf den muskulösen Armen und Beinen hatte. Ich antwortete, es ginge mir gut, danke, ich müsste mich nur kurz ausruhen. Interessiert sah sie zu, wie ich mich auf die Eingangsstufe vor dem nächstgelegenen Haus setzte. Sie machte ein bisschen den Eindruck, als würde sie mich gern abstützen, hielt sich aber höflich zurück. Eine dicke ölige Schicht bedeckte ihr hübsches Gesicht wie eine Glasur, und das Lächeln mit den geraden weißen Zähnen passte viel weniger zu ihr als das Kleid, das ganz natürlich an ihr wirkte. Ich versicherte ihr noch mal, dass es mir gutginge, dann verschwand sie mit leicht verschränkten Beinen wie ein Mädchen im Bikini, das vor den Freunden ihres Freundes in den Pool steigt.
Ich bewegte meinen Knöchel hin und her, um sicherzugehen, dass keine Sehne gerissen war. Ich hatte Angst, auf mein Handy zu sehen, weil sich dann nämlich bestätigen würde, dass vor wenigen Stunden ganz in der Nähe Andrei von einem Straßenräuber erschossen worden war, mit sechsunddreißig Jahren, wie ich kurz ausrechnete, drei Jahre älter als ich. Auf der Stufe, auf der ich saß, lagen überall abgebrannte Streichhölzer. Bei der Vorstellung, dass vielleicht Andreis Mörder sie angezündet hatte, ein Cracksüchtiger, der bereit war, für ein paar Steinchen zu töten, lief mir ein Schauer über den Rücken und mir wurde übel. Der Schweiß rann hinter meinen Ohren entlang über den Hals. Ich fragte mich, was während meiner Abwesenheit mit der Stadt passiert war, was absurd war, zumal bis gerade eben noch überhaupt nichts passiert zu sein schien, die Stadt war dieselbe wie immer. In meiner Hilflosigkeit kam mir wahrscheinlich der Gedanke, dass die Zeit, in der wir lebten, der Auftakt zu einer langsamen, irreversiblen Katastrophe war und dass die Kraft, das Naturgesetz oder das Etwas, das unsere Träume mit Leben erfüllte, und mit »unsere« meinte ich meine Träume, die meiner Freunde, meiner Generation, allmählich versiegte.
Ich war fast zwei Jahre nicht in Porto Alegre gewesen. Als ich vor einer Woche herkam, hatte ich das Bild von einer luftigen, bunten Stadt im Kopf, das bernsteinfarbene Licht eines Frühlingstages, blauer Himmel und blühende Ipê-roxos im Parque da Redenção, Erinnerungen, die ohne Zweifel real waren, aber aus einer undeutlichen, mit der Gegenwart nicht mehr vereinbaren Vergangenheit stammten. Im Laufe dieser Woche, in der die Stadt unter einem Teppich von Schmutz begraben schien und in der Hitze des schlimmsten Sommers seit Jahrzehnten brütete, erinnerte sie mich an einen Leberkranken, den man zum Sterben der Sonne überlassen hatte. Autos und Menschen mieden die Straßen an jenem einunddreißigsten Januar, mitten in den Schulferien, kurz vor Karneval, und der Streik der Busfahrer, der bereits den fünften Tag in Folge den gesamten öffentlichen Nahverkehr lahmlegte, sorgte schließlich dafür, dass die ganze Stadt wie unter einer Glasglocke vor sich hin dämmerte. Arbeiter aus den Randbezirken weinten in die Fernsehkameras, weil sie nirgends hinkamen und ihre Chefs ihnen die fehlenden Tage vom Lohn abzogen. Kleinbusse, Schulbusse, die von der Stadt als Ersatz eingesetzt wurden, und schrottreife illegale Busse jagten über die leeren Spuren, vollgestopft mit Menschen kurz vor dem Hitzeschlag. Von der immensen Nachfrage beflügelt, hupten und fuhren die Taxifahrer, wie sie lustig waren, und berechneten teilweise am helllichten Tag Nachtzuschlag, einfach weil sie es konnten.
Der Taxifahrer, der mich vor ein paar Tagen vom Flughafen direkt zum Krankenhaus gefahren hatte - womein Vater lag -, meinte, das Arbeitsgericht habe den Streik bereits als rechtswidrig eingestuft, aber den Streikenden sei das egal und ein Ende der Situation sei nicht abzusehen. Busse, die die Depots verließen, wurden von den Gewerkschaftlern mit Steinen beworfen. Die Busfahrer kämpften gegeneinander und gegen ihre Arbeitgeber, die beschuldigt wurden, mitverantwortlich für den Streik zu sein, um so die Regierung zu einer Erhöhung der Tarife zu zwingen, worauf die sich niemals einlassen würde, nicht nach den Demonstrationen im Juni 2013, die, unter dem Einfluss massiver Polizeigewalt, dafür gesorgt hatten, dass die Erhöhung der Fahrpreise im ganzen Land rückgängig gemacht wurde. Währenddessen verbrannten die Pflanzen in der Sonne, im Morgengrauen fühlten die Temperaturen sich an wie im Regenwald und nachmittags kletterten die Thermometer in der Innenstadt über fünfundvierzig Grad. Das Leitungswasser kam heiß aus den Hähnen. Nicht warm. Heiß. Glühend heiß. In manchen Teilen der Stadt gab es teilweise über Stunden oder sogar Tage weder Wasser noch Strom. Die Bevölkerung in den Randgebieten hatte natürlich am meisten darunter zu leiden, die Leute fingen schon an, aus Protest Blockaden auf den Straßen zu errichten. Die Bettler teilten sich die Schattenplätze und versanken frühmorgens auf ihren Pappkartonbetten in einen deliriumartigen Halbschlaf, die Augen leicht geöffnet. Am liebsten hätte ich mich auf die Stufe vor dem Haus gelegt und genauso geschlafen.
Nachdem ich eine Weile so dagesessen hatte, warf ich einen Blick auf mein Handy, auf dem noch die Seite von Zero Hora mit einem Artikel über den Mord an Andrei Dukelsky geöffnet war. Ich scrollte den Text runter, bis das gläserne iPhone-Display vom Schweiß meiner Finger nass war. Laut Andreis Freundin, einer gewissen Francine Pedroso, war er um halb zehn Uhr abends Joggen gegangen und hatte nur Hausschlüssel und Handy dabei, das Handy hatten die Täter gestohlen. Es gab keine Zeugen, obwohl der Tatort in einer auch abends nicht unbelebten Gegend lag. »Eines der vielversprechendsten Talente zeitgenössischer brasilianischer Literatur«, hieß es über ihn. »Duke, wie ihn Freunde nannten.« Unter dem Hashtag #R.?I.?P.?Duke konnten Leser und Freunde in den sozialen Netzwerken ihre Anteilnahme zeigen. Ich traute mich nicht draufzuklicken.
Andrei und ich hatten nicht mehr viel miteinander zu tun gehabt. Vor ein paar Jahren war ich ihm noch mal in São Paulo begegnet, bei seiner letzten Autogrammstunde, jedenfalls der letzten, die ich mitbekommen hatte. Seinen Twitter-Account nutzte er nicht mehr, und sein Facebook-Leben hatte er auch beendet, wie ich danach feststellte. Digitaler Selbstmord sozusagen. Dass wir enger befreundet waren, lag schon fünfzehn Jahre zurück, damals hatten wir während des Studiums per E-Mail für unser digitales Fanzine Orangotango geschrieben und diverse Gespräche geführt, die wir als extrem tiefsinnig in Erinnerung behielten. Er brachte mir auch Camus und Moby Dick nahe. Ich überlegte, wo wohl die anderen von damals steckten, vor allem Emiliano, den ich am meisten vermisste, seit ich in São Paulo wohnte. Ich erinnerte mich, wie mir Andrei zum ersten Mal auf dem Campus vor dem Fachbereich Journalismus aufgefallen war. Er rauchte, als wäre er mit der Zigarette in der Hand geboren worden, war korpulent und konzentriert wie ein Judokämpfer und hatte Geheimratsecken. Meistens trug er hochwertige blaue und rosa Hemden und ging im Jackett in die Bar, was man bei einem Studenten...
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