1. Kapitel
»Diplomatisch«, presste Hanne zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ihre linke Gerade prallte mit einem satten Wumms auf den Boxsack.
Abgelenkt von dem Handy, das sie in der Hand hielt, taumelte Songül zurück, dann stemmte sie sich wieder gegen den Sack.
»Ich kann es echt nicht mehr hören.« Eine rechte Gerade folgte. »Und dann dieses Zuckerwattelächeln, das so klebrig ist, dass sie die Zähne nicht auseinanderkriegt.
»Was ist falsch daran?«
»An diesem Lächeln?« Hanne fletschte die Zähne.
»Ich dachte eher an Diplomatie.« Songül grinste breit. »Kriegst du deine Tage, oder warum bist du so grell drauf?«
»Ich bin nicht grell drauf, wenn ich meine Tage kriege«, widersprach Hanne.
»Das glaubst auch nur du«, konterte Songül.
Keuchend donnerte Hanne eine Kombination gegen den Sack.
»Oh«, flötete Songül, ohne von ihrem Handy aufzublicken. »War das jetzt nicht diplomatisch genug?«
»Du mich auch.« Hanne ließ die Fäuste sinken. Ihre Armmuskeln brannten. Sie war lange nicht mehr beim Training gewesen. »Außerdem hatte ich meine Tage gerade. Nur für deine Buchführung.«
»Dann leidest du also nicht nur unter dem prämenstruellen, sondern auch unter dem postmenstruellen Syndrom?«, spottete Songül. »Interessant.«
»Das Wort gibt es überhaupt nicht«, behauptete Hanne, obwohl sie sich nicht sicher war. Sie war von ihrem Vater und ihrer Oma aufgezogen worden. Da hatte das Thema Aufklärung nicht unbedingt auf der Tagesordnung gestanden. Als sie das erste Mal ihre Tage hatte, verwies sie ihr Vater fast panisch an ihre Oma, und die erklärte ihr lediglich, dass das jetzt immer so sei und sie kein »Bohei« darum machen und sich von Jungs fernhalten sollte. »Kein Bohei« machen gehörte zu den Ermahnungen, die Hannes Kindheit begleitet hatten.
»Nur keine Müdigkeit vorschützen.« Songül blickte für einen Moment von dem Display ihres Handys auf. »Du bist noch lange nicht fertig.«
Hanne hob die müden Arme an und drosch auf den Boxsack ein, bis ihre Fingerknöchel schmerzten, dann wischte sie sich mit dem Unterarm den Schweiß aus den Augen und musterte ihr Spiegelbild. Nichts Besonderes, aber auch kein Schreckgespenst. Zumindest nicht, wenn sie nicht gerade mit hochrotem Kopf nach Luft rang.
Hanne wünschte, der Verein hätte statt in Spiegel in eine Klimaanlage investiert. Aber wahrscheinlich konnte man diese alte Lagerhalle nicht klimatisieren. Im Winter war sie kalt, und im Sommer staute sich die Hitze unter dem Wellblechdach. Hier trainierten nur die Harten und solche, die es werden wollten. Nur wenige Frauen fanden den Weg hierher, und Hanne war die Einzige ohne Migrationshintergrund, wenn eine ostpreußische Oma nicht zählte. Hanne war es egal. Sie fühlte sich wohl hier. Niemand war hier diplomatisch.
Entlang der Spiegelwände reihten sich schmale Turnbänke, unter denen Sporttaschen standen. Von Eisenstreben, die die Halle durchzogen, hingen Boxsäcke, daneben standen die Boxbirnen, gefolgt von den Gewichten und den beiden Ruderbänken. Außerdem waren ein Büro und zwei Umkleiden in die Halle gebaut. Die Umkleide für Frauen war sehr viel kleiner als die der Männer, verfügte aber immerhin über eine Dusche. Hanne blickte hinüber zum Ring, in dem gerade zwei Kickboxer trainierten, dann konzentrierte sie sich wieder auf den Boxsack vor ihrer Nase. Sie schlug noch einige Links-rechts-Kombinationen.
»Dein Turn«, sagte sie schließlich und ließ die Arme sinken. Sie mochte das Gefühl der Schwere, wenn die Handschuhe wie mit Blei gefüllt an ihren Sehnen zogen. Wieder begegnete sie ihrem eigenen Blick und zog den nicht vorhandenen Bauch ein. Sie ähnelte ihrem Vater, war groß mit breiten Schultern. Nur die Augen hatte sie von ihrer Mutter. Zumindest sagten das alle. Hanne selbst erinnerte sich nicht. Ihre Mutter war gestorben, als sie fünf war: Brustkrebs. Obwohl es nicht stimmte, hatte Hanne das Gefühl, sie sei an dem einen Tag noch da gewesen und am nächsten Tag fort. Die Zeit dazwischen hatte ihr kindliches Ich verdrängt. Nun begegnete ihre Mutter ihr nur in ihren Träumen, mit dem Gesicht, das Hanne von Fotos kannte. Ihre einzige aktive Erinnerung war, wie sie hochgehoben wurde und in der Umarmung ihrer Eltern versank und sie alle zusammen sagten: Gemeinsam sind wir Öl im Getriebe! Danach hatten sie sich geküsst. Hanne verdrängte den Gedanken, ließ sich auf die Holzbank fallen und löste mit den Zähnen die Verschnürung ihrer Boxhandschuhe.
»Worum ging es denn überhaupt?« Songül setzte sich neben sie, den Blick wieder fest auf ihr Handy gerichtet.
»Wer ist es denn diesmal?« Hanne streckte den Hals, um einen Blick auf das Display werfen zu können, doch Songül drehte es weg. »Niemand«, behauptete sie.
»Nun sag schon«, bat Hanne. »Denk daran, ich hab kein Leben.«
»So seid ihr Deutschen«, spottete Songül. »Immer nur arbeiten und nix denken.« Sie grinste so breit, dass auch Hanne sich gleich besser fühlte.
»Wie ist das so?« Oberhalb von Hannes Magen kribbelte es. Songül tinderte seit geraumer Zeit, und Hanne wusste nicht, was sie davon halten sollte.
»Was?«
»Wenn du dich mit einem triffst. Ich meine .« Hanne stockte. Irgendwie gab es keine Art, diesen Satz zu beenden, die sie nicht als prüde Idiotin aussehen ließ.
»Ich bumse nicht gleich mit jedem. Falls du das meinst.«
»Aber ist das nicht .?« Der Satz hatte ebenfalls kein Potenzial für einen coolen Schluss. »Ich meine, hast du das nötig?« Sie musterte die Freundin von der Seite. Songül war nicht schön im klassischen Sinn, dazu war ihr Gesicht zu kantig. Doch sie hatte eine tolle Figur und dichtes dunkles Haar. Zwei Attribute, auf die Männer abfuhren.
»Ich will niemanden hier«, Songül machte eine Handbewegung, die nicht nur die Halle, sondern den ganzen Ort einzubeziehen schien, »kennenlernen. Was meinst du, was in meiner Familie los ist, wenn die mitkriegen, dass ich mich mit jemandem treffe? Das hier«, sie hob ihr Handy, »ist meine Form der Diplomatie. Womit wir wieder beim Thema wären. Also: Was war los?«
»Das Übliche halt.« Hanne quetschte den Boxhandschuh zwischen die Oberschenkel und zog die Hand heraus.
»Also Streit mit deinem Alten.« Songül nickte mitfühlend. Bei Streit mit Vätern kannte sie sich aus. »Was ist es denn diesmal?«
»Er hat mich langgemacht, weil ich in der Werkstatt ausgeholfen habe. Dabei konnten die Hilfe gebrauchen. Sobald für eine Woche kein Nachtfrost angesagt ist, will alle Welt die Winterreifen loswerden. Er hat gesagt, ich soll das machen, wofür er mich bezahlt.«
»Okay.« Songül legte das Handy auf die Bank und bückte sich nach ihrer Sporttasche. »Und du bist hochgegangen.« Sie kannte Hanne gut genug, um ihre Reaktion vorherzusagen.
»Ich hab's einfach so satt.« Hanne zog den zweiten Handschuh aus und ließ ihn achtlos zu Boden fallen. »Und dann hat sich zu allem Überfluss auch noch Emilia eingemischt. Natürlich hat sie ihm recht gegeben. Aber kaum war er wieder in der Werkstatt, hat sie plötzlich so getan, als sei sie auf meiner Seite, und mir geraten, ich solle diplomatischer sein.« Hanne fuhr sich mit beiden Händen durch die verschwitzten Haare.
»Sie kommt halt aus einer von Männern dominierten Kultur«, gab Songül zu bedenken, die sich als beste Freundin seit Kindergartenzeiten sehr gut in Hannes Familiengeschichte auskannte.
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte Hanne sich in Songüls Familie, die in einem zugigen Fachwerkhaus mit Ofenheizung lebte, selbst im Winter heimischer gefühlt als bei ihrem Vater, der nach dem Tod ihrer Mutter immer schweigsamer geworden war. Bei Songül war immer etwas los. In dieser Familie, zu der außer Songül und ihren Eltern noch zwei ältere Schwestern, eine Oma und wechselnde Tanten gehörten, hatte Hanne, zumindest bis zur Pubertät, die Leichtigkeit gefunden, die ihr zu Hause fehlte.
Dabei hatte ihr Vater versucht, ihr die Mutter zu ersetzen. Doch war er noch zu sehr in seiner eigenen Trauer versponnen, um mit ihr zu lachen oder albern zu sein. Außerdem musste er den Familienbetrieb am Laufen halten.
Bis Hannes Großmutter bei ihnen einzog, wuchs Hanne im Wesentlichen zwischen Ölwechsel und...