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Bei diesem Besuch machte mich mein Bruder darauf aufmerksam, dass unsere Mutter sich doch um die deutsche Staatsangehörigkeit kümmern wollte. Sie erfüllte alle Voraussetzungen, und deshalb hätte sie schon längst einen Antrag stellen können. Sie wurde in Polen geboren, im Alter von vierzig Jahren kam sie nach Deutschland, wo sie ihren zweiten Mann kennenlernte. Leider starb dieser bereits einige Jahre später, als sie gerade fünfzig Jahre alt wurde. Seitdem lebte sie allein. Sie arbeitete und regelte zielstrebig ihre Angelegenheiten, bei denen sie kaum Unterstützung brauchte. Es sah eigentlich mehr danach aus, dass sie diejenige war, die Hilfe anbot. Es gab einige, mit denen sie die Ämter aufsuchte, wo sie, wegen ihrer guten Deutschkenntnisse, beim Ausfüllen verschiedener Anträge oder Formulare half. Sie war sozusagen in der Lage, ihr Leben selbst zu regeln, man könnte sogar behaupten, dass sie diesen Zustand genoss. Polen gehört zur EU, was ihren Aufenthalt in der BRD fast uneingeschränkt sicherte. Die Tatsache, dass sie unter keinem Druck stand und es deshalb nicht eilig hatte, trug vielleicht dazu bei, dass sie sich mit der Möglichkeit, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erlangen, noch nicht auseinandergesetzt hatte. Es stand fest, sie wollte ihr restliches Leben in Deutschland verbringen und als Bürgerin dieses Landes dazugehören. Ich vereinbarte mit meinem Bruder, ihr bei dieser Angelegenheit zu helfen. Kurze Zeit später erkundigte ich mich, welches Amt sie aufsuchen musste, und begleitete sie dorthin.
Wir verabredeten uns bei ihr in der Wohnung, von wo aus wir zusammen loswollten. Wir mussten mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof und von dort mit einem Bus weiter. Unterwegs fragte ich sie nach ihrer Monatskarte (sie hatte meistens eine dabei). »Ich habe mir gestern eine gekauft«, antwortete sie entspannt.
Am Hauptbahnhof stiegen wir um. Ich fing an, nach einem Sitzplatz Ausschau zu halten. In der Zeit lief sie in den vorderen Teil des Busses. »Wo gehst du hin, Mama?«, rief ich ihr hinterher. Sie schaute mich an und antwortete: »Ich muss mir doch eine Fahrkarte kaufen!«
»Du hast doch eine Monatskarte, hast du gesagt!?«, rief ich überrascht.
Sie lächelte mich an und sagte: »Ach, stimmt! Das habe ich ganz vergessen.«
Nachdem wir das Amt verlassen hatten, nahmen wir wieder den Bus, um zurück zum Bahnhof zu kommen. Erneut lief sie zielstrebig Richtung Busfahrer, um eine Fahrkarte zu kaufen. Ich hielt sie wieder auf, diesmal mit einer ordentlichen Portion Schreck in der Stimme.
»Ja, stimmt!«, sagte sie mit weit aufgerissenen Augen und unsicherer als auf der Hinfahrt, »ich habe doch eine Tageskarte gekauft!«
»Tageskarte? Nicht Monatskarte?«, hakte ich nach.
»Gestern habe ich eine Tageskarte gekauft!«, war ihre Antwort.
Sie nahm ihr Portemonnaie in die Hand und fing an, nach dem Schein zu suchen. Nach einer Weile übernahm ich das.
»Eine Tageskarte, die gestern gekauft wurde, ist heute doch nicht mehr gültig«, sagte ich und suchte weiter.
Nach einer Weile fand ich tatsächlich eine Tageskarte, leider eine von vorgestern. In jedem Teil meines Körpers breitete sich wieder ein komisches Kribbeln aus, ein Gefühl ähnlich dem, das man spürt, kurz bevor man in Ohnmacht fällt. Das Bedrohliche, das seit einiger Zeit deutlich präsent war, beherrschte jetzt für einige Sekunden meinen Körper und meine Denk- und Sprachfähigkeit vollständig. Ich verstummte, bis wir wieder am Hauptbahnhof ankamen und vor dem Fahrkartenautomaten standen, um endlich einen Fahrschein zu ziehen. Hier trennten sich normalerweise unsere Wege, da sie noch eine andere U-Bahn-Linie nehmen musste, um wieder nach Hause zu kommen. Meine Mutter nahm ihr Geld in die Hand, schaute sich ziemlich lange die vielen verschiedenen Knöpfe am Automaten an, um dann entschlossen die Tageskartentaste zu drücken. Ich war schockiert. Es war fast 18.00 Uhr, sie hatte an diesem Tag nur noch eine Fahrt vor sich, die höchstens fünfzehn Minuten dauern würde und zwei Euro achtzig kosten sollte. Sie wählte jedoch die sieben Euro zwanzig teure Tageskarte. Ich machte sie auf ihre falsche Entscheidung aufmerksam. Sie stand vor mir und machte den Eindruck, als hätte sie kein einziges Wort von dem verstanden, was ich ihr zu erklären versuchte. Sie wusste auch nicht, wie sie den Automaten bedienen soll, um eine Einzelfahrt zu kaufen. Meine innere Aufregung erreichte jetzt ihren Höhepunkt. In meinem Kopf pochte es. Ich hatte das Gefühl, dass ich langsam anfing zu begreifen, was sich da vor mir abspielte. Der Nebel des Unwissens verzog sich langsam. Jetzt sah ich es deutlich - meine Mutter vergisst.
Eine ihrer Freundinnen gab mir die Adresse eines Ärztezentrums, das sich in unmittelbarer Nähe ihres Wohnortes befand. Dort vereinbarte ich für sie bei einer Neurologin einen Termin. In meiner naiven Vorstellung hoffte ich, dass ihr Leiden etwas Vorübergehendes wäre und sie Medikamente verschrieben bekäme, die etwas Gutes bewirken würden. Darüber sprach ich auch mit ihr. Meine Mama war jedoch skeptisch. Jedes Mal, wenn ich von dem Termin sprach, fragte sie, warum sie dahin müsse, und ich antwortete immer dasselbe: »Damit dir dort geholfen wird!«
Am Tag des Arzttermins erlebte ich sie in großer Aufregung. Sie erinnerte mich an ein Kind, das geimpft werden soll, sich aber schon im Grundschulalter befindet, in dem es peinlich ist, wie ein Kleinkind einen Aufstand zu machen.
Die Neurologin wirkte nett und zuvorkommend. Sie fragte meine Mama, mit welchem Problem sie zu ihr käme. Meine Mutter antwortete, dass es ihr eigentlich gut gehe, dass ihre Tochter meine, sie sei vergesslich, aber alle vergessen doch mal etwas. Sie verstehe überhaupt nicht, warum sie hier sei. Die Ärztin nickte die ganze Zeit, und während meine Mama redete, machte sie sich Notizen in ihrem Computer. Die meisten Fragen bezüglich ihrer Selbstständigkeit beantwortete meine Mutter mit einem »Ja, ich kann das« oder »Natürlich kann ich das«. Ich schüttelte verwundert den Kopf und gleichzeitig versuchte ich die Neurologin auf mich aufmerksam zu machen. Als ich endlich zu Wort kam, berichtete ich ihr von der Fahrkartengeschichte. Sie hörte mir aufmerksam zu und reichte meiner Mutter dann ein Blatt Papier mit der Bitte, eine Uhr zu zeichnen, deren Zeiger 11.10 Uhr darstellten. Meine Mama überlegte eine Weile, dann zeichnete sie einen Kreis und starrte diesen an. Sie drehte das Blatt nach links und rechts und murmelte etwas dabei. Ich konnte mir das nicht lange ansehen und fing an, ihr kleine Tipps zu geben. Die Ärztin ging schnell dazwischen und ich verstummte wieder. Meine Mutter sammelte sich und zeichnete auf ihrer Uhr ein paar Zahlen. Eine Weile passierte wieder nichts.
Das ist doch nicht real!, schoss es mir durch den Kopf. Mit 65 Jahren eine Uhr zu zeichnen, so etwas kann man nicht vergessen, oder doch?. Ich zitterte wieder innerlich. Dann hob meine Mutter erneut ihre Hand, atmete laut ein und machte zwischen der Zahl 10 und 11 auf der Außenseite des Uhr-Kreises einen Strich.
Ich schaute die Neurologin wieder an in der Hoffnung, dass sie jetzt sagte: »So, Frau Wenzel, Sie bekommen die und die Tabletten, nehmen Sie sie morgens und abends ein und dann ist Ihre Vergesslichkeit schnell wieder weg.«
Die Ärztin schaute uns eine Weile gar nicht an. Sie war nur mit ihren Notizen beschäftigt. Schließlich fing sie an, meine Mama nach verschiedenen Daten zu fragen. Sie wollte z. B. wissen, welchen Tag und Monat wir haben. Meine Mutter wusste es nicht. Auf die Frage nach dem Jahr antwortete sie zuerst »1997«, dann »2000« (wir hatten 2017). Die Ärztin rief ihre Sprechstundenhilfe und schickte sie mit ihr in einen anderen Raum, um weitere Tests vorzunehmen. Ich wartete. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Als sie fertig waren, erlebte ich meine Mama unheimlich aufgeregt. Sie schnappte nach Luft, stöhnte, hyperventilierte fast, wischte sich den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn und marschierte schnell Richtung Ausgang. Ich lief ihr hinterher, schnappte mir ihren Arm und sagte bestimmend: »Beruhige dich!«
Ich platzierte sie auf einen freien Stuhl im Warteraum. Dann suchte ich wieder das Gespräch mit der Ärztin. Sie zeigte mir die Auswertung des Tests. Es handelte sich hier um einen Standarttest, den die Neurologen zur Feststellung der Demenz-Problematik verwenden. Von siebzig möglichen Punkten hatte sie 23 erreicht. Laut der Umrechnungstabelle nur fünf Punkte. Beim Gesamtergebnis wurde die Stelle »Demenzverdacht« angekreuzt. Die Ärztin bat meine Mama erneut zu sich ins Zimmer.
»Es sieht so aus, Frau Wenzel, dass wir es bei Ihnen mit Alzheimer Demenz zu tun haben«, verkündete sie relativ emotionslos das Urteil.
Mir wurde übel. Die Neurologin sprach weiter, doch ich hörte ihr nicht mehr zu. Ich schaute nur meine Mutter an und versuchte, ihre Gedanken zu lesen. Ich versuchte in ihren Kopf zu kriechen. Ich starrte sie an, trotzdem gelang es mir nicht, eine Regung in ihrem Gesicht auf diese Nachricht zu entdecken, außer der Aufregung, die ich schon vorher gesehen hatte. Ich glaube, insgeheim hoffte...
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