Chronische Schmerzen sicher begutachten
Durch die Veröffentlichung der AWMF-Leitlinie für die Begutachtung von Schmerzen wurde ein Konvergenzprozess zum notwendigen Austausch zwischen den fachärztlichen Disziplinen angestoßen.
In diesem Werk sind die vielfältigen Aspekte der chronischen Schmerzbegutachtung von renommierten Experten nachvollziehbar und anschaulich dargestellt.
Das Buch bietet Ihnen:
- die Anleitung, um eine einheitliche und plausible sozialmedizinische Leistungsbeurteilung, ggf. auch eine Kausalitätsbewertung, durchzuführen, wie sie der AWMF-Leitlinie entspricht
- Grundlagen der Schmerzbegutachtung
- Hintergründe zu den wichtigsten Störungen
- Informationen zum Verfassen des Gutachtens
- Besonderheiten bei chronischen Schmerzpatienten
- Schmerzbegutachtung in verschiedenen Rechtsgebieten
- Anforderungen aus Sicht des Sozialrichters
- Informationen zur speziellen Liquidation von Schmerzgutachten.
Kapitel 2
Wichtige Störungen
Karl-Jürgen Bär, Claus Derra, Ulrich T. Egle, Ulrich Frommberger, Bernd Kappis, Wilfred A. Nix, Marcus Schiltenwolf and Caspar Sieveking
2.1. Sozialmedizinische Begutachtung bei Somatisierungsstörung und somatoformer Schmerzstörung Ulrich T. Egle
2.1.1. Differenzialdiagnose
2.1.2. Leistungsbeurteilung bei Somatisierungsstörung mit Leitsymptom Schmerz
2.1.3. Fallbeispiel zur anhaltenden somatoformen Schmerzstörung
2.2. Begutachtung bei posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) Ulrich T. Egle, Bernd Kappis und Ulrich Frommberger
2.2.1. Einleitung
2.2.2. Definition des Krankheitsbilds
2.2.3. Standardisierte und strukturierte Interviews
2.2.4. Differenzialdiagnose
2.2.5. Neurobiologie der PTBS mit Leitsymptom Schmerz
2.2.6. Wesentliche Aspekte der PTBS-Begutachtung
2.2.7. Kompensationswünsche
2.2.8. Fallbeispiel 1
2.2.9. Aggravation und Simulation
2.2.10. Fallbeispiel 2
2.3. Sozialmedizinische Begutachtung beim Fibromyalgiesyndrom Ulrich T. Egle
2.3.1. Einleitung
2.3.2. Berufliche Leistungsfähigkeit und berufliche Wiedereingliederung
2.3.3. Fallbeispiel 1
2.3.4. Fallbeispiel 2
2.4. Begutachtung bei chronischem Kopfschmerz Claus Derra und Wilfred A. Nix
2.4.1. Einleitung
2.4.2. Prinzipien und Probleme der Begutachtung
2.4.3. Fallbeispiel
2.5. Begutachtung von Rückenschmerzen Marcus Schiltenwolf
2.5.1. Einleitung
2.5.2. Begutachtung von Rückenschmerzen
2.5.3. Fallbeispiel
2.6. Begutachtung bei Komorbidität Schmerz und Depression Karl-Jürgen Bär
2.6.1. Einleitung
2.6.2. Gegenstand der Begutachtung
2.6.3. Berufliche Leistungsfähigkeit und Wiedereingliederung
2.6.4. Fallbeispiel: Berufsunfähigkeit im Rahmen einer privaten BU-Versicherung
2.1 Sozialmedizinische Begutachtung bei Somatisierungsstörung und somatoformer Schmerzstörung
Ulrich T. Egle
Bei der Begutachtung somatoformer Schmerzstörungen bzw. Somatisierungsstörungen mit Leitsymptom Schmerz ist nicht zuletzt die Abgrenzung zu Simulation und Aggravation von großer Bedeutung, da es objektivierende somatische Parameter nicht gibt.
Die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung erfordert zunächst eine sorgfältige somatische Ausschlussdiagnostik im Hinblick auf ein nozizeptiv oder neuropathisch determiniertes Schmerzgeschehen. Auszuschließen ist als Ursache der Schmerzen auch ein infolge eines psychovegetativen Spannungszustands bedingtes, muskulär determiniertes dysfunktionelles Schmerzgeschehen. Auch trägt die etwas unglückliche Festlegung einer „nicht hinreichenden“ körperlichen Erklärung der Schmerzen des Patienten durch die erhobenen somatischen Befunde im ICD-10 dazu bei, dass jedwede Diskrepanz zwischen dem vom Patienten geschildertem Ausmaß seiner Schmerzen einerseits und den vom Untersucher erhobenen Befunden andererseits vorschnell als somatoforme Störung eingeordnet wird. Dies bedingt, dass häufig Patienten mit nozizeptiv bzw. neuropathisch bedingten Schmerzen und psychischer Komorbidität fälschlicherweise als somatoform etikettiert werden. Diese Überbewertung des peripheren Befunds vernachlässigt auch mit zunehmender Schmerzdauer auftretende spinale und zentrale Veränderungen (z. B. Wind-Up-Phänomene, neuronale Plastizität) bei nozizeptiv ebenso wie bei neuropathisch determinierten Schmerzen.
Bereits eine sorgfältige Symptomabklärung kann für das Vorliegen einer somatoformen Schmerzstörung deutliche Hinweise erbringen: Typisch ist ein in seiner Intensität wechselnder Dauerschmerz ohne freie Intervalle, welcher in seiner Stärke unter Zuhilfenahme einer visuellen oder numerischen Analogskala im Mittel > 6 (VAS/NRS 0–10) angegeben wird. Bei der Beschreibung der Schmerzen verwenden die betroffenen Patienten typischerweise affektive Adjektive (z. B. scheußlich, fürchterlich, schrecklich) und beschreiben weitreichende Beeinträchtigungen im beruflichen wie im privaten Bereich. Die Art, wie diese sehr starken Schmerzen und die damit einhergehenden Beeinträchtigungen geschildert werden, erweckt beim Untersucher oft den Eindruck, dass die Betroffenen gar nicht von sich, sondern eher von Dritten sprechen, da eine deutliche Diskrepanz zwischen Inhalt und Art der Schilderungen besteht. Diese Diskrepanz führt dann – im besonderen Maß, wenn es um gutachterliche Fragestellungen geht – dazu, dass die Betreffenden vorschnell als „Simulanten“ eingeordnet werden.
Typischerweise sind Frauen im Vergleich zu Männer 4- bis 5-mal häufiger betroffen. Die Schmerzlokalisation kann überall sein, wobei multilokuläre Schmerzen – und damit fließende Übergänge zur Fibromyalgie (Kap. 2.3) – häufig sind. Handelt es sich um eine umschriebene Lokalisation, so stehen besonders Arme und Beine (z. B. „Karpaltunnelsyndrom“, „Knieschmerzen“), atypische Gesichts- und „Zahn“-Schmerzen sowie Unterleibsschmerzen („Pelvipathie“) im Vordergrund.
Die sorgfältige Erhebung der Eigenanamnese erbringt häufig eine bereits vor Beginn der Schmerzsymptomatik bestehende erhöhte vegetative Reagibilität (z. B. Kloßgefühle, Bauchschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden). Auch Benommenheitsgefühle werden häufig berichtet, welche zunächst oft als „Schwindel“ beschrieben werden. Typischerweise zeigen die Patienten eine einseitig somatische Krankheitsattribuierung und verleugnen (zunächst) psychosoziale Einflussfaktoren weitestgehend. Dies kann bei psychosomatischer Begutachtung zu einem Dissimulationsverhalten führen: Eine psychosomatische Erkrankung wird vom Betroffenen nicht selten als „Versuch der Überführung als Simulant“ verstanden.
Auch wenn im Rahmen einer Begutachtung eigentlich der Betroffene gegenüber dem Gutachter nachweispflichtig ist, ist es bei einer Somatisierungsstörung mit Leitsymptom Schmerz die Aufgabe des Untersuchers eine solche Dissimulation zu erkennen!
Um im Rahmen einer psychosomatischen Abklärung bzw. Begutachtung einen Zugang zu bekommen, ist es hilfreich, vor Beginn der Begutachtung auf das Einwirken von Stress bzw. auf die Entstehung und Verarbeitung von Schmerzen auf der Ebene zentraler Mechanismen hinzuweisen („Funktionsstörung des Gehirns“). So kann dem betroffenen Patienten die Befürchtung genommen werden, beim Nachweis psychosozialer Einflussfaktoren und psychosomatischer Wechselwirkungen als „Simulant“ eingeordnet zu werden, bzw. dass das Rentenbegehren gefährdet sein könnte.
Komorbid auftretende depressive und Angsterkrankungen, welche zeitlich bereits deutlich vor Schmerzbeginn bestanden oder danach auftraten, weisen mehr als die Hälfte der Patienten auf; bei 10–15 % bestehen Persönlichkeitsstörungen, vor allem anankastische, ängstlich-vermeidende oder auch dependente (Cluster-C). Neben der von den Patienten in den Vordergrund gestellten Schmerzsymptomatik bestehen bei fast allen (95 %) dieser Patienten zwei und mehr zusätzliche Symptome, vor allem Müdigkeit/Erschöpfung, Taubheitsgefühle, Schwindel, Gehbeschwerden und Herzrasen, wegen denen sie ebenfalls einen Arzt hätten aufsuchen können. Der Übergang zur Somatisierungsstörung ist insofern fließend (Nickel et al. 2009). Indem diese Patienten im Rahmen ihrer Beschwerdeschilderung das Symptom Schmerz ganz in den Vordergrund stellen, werden sie von Orthopäden und (anästhesiologischen) Schmerztherapeuten oft viel zu...