Es geht los!: Anbauverband Bioland
"Jetzt ist genug seit langem davon geredet worden - jetzt ist es Zeit zum Handeln", heißt es im Gründungsprotokoll. Am 25. April 1971 trafen sich zwölf Männer - und "einige Ehefrauen, die sich nicht eingetragen haben" - im baden-württembergischen Honau, um mit dem bio-gemüse e. V. den Vorläufer des Anbauverbands Bioland ins Leben zu rufen, dem heute rund 9.000 Mitgliedsbetriebe in Deutschland und Südtirol angehören. Zum Start waren es zaghafte sieben Erzeugerbetriebe. Von Anfang an und auch bei der Vereinsgründung mit dabei war ein junger Gemüsegärtner aus dem Raum Nürnberg: Günter Sippel. "Freilich könnens komma", tönt es im besten fränkischen Dialekt aus dem Telefonhörer. Allerdings schränkt er im gleichen Atemzug ein, dass er in der kommenden Woche erst am Donnerstag Zeit für meinen Besuch findet. Die Tage davor gilt es jede Menge Jungpflanzen zu setzen. Mit seinen 84 Jahren arbeitet Sippel tatkräftig mit. Ruhestand? "Na, brauch ich net", winkt er bei unserem persönlichen Gespräch ab. Durch den Hofladen und dem Vorraum, wo fleißige Hände Gemüse putzen und mich kräftig-orangene Möhren anlachen, geht es in die Küche.
Es war früh klar, dass er den Betrieb von seinem Vater Hans übernehmen würde. Um sich darauf vorzubereiten, startete Günter Sippel seine Lehre 1960 in Segnitz am Main. Dort sah er mit Baumwollanzügen geschützte Kollegen, die Pestizide auf den Freiland-Tomaten versprühten. Die chemisch-industrielle Landwirtschaft war auf dem Siegeszug, erleichterte sie doch die Arbeit und brachte reichhaltige Ernten. Die negativen Folgen wie das Artensterben waren allenfalls zu erahnen, die Vorteile schienen klar zu überwiegen. Doch Sippels Welt war es nicht. "Chemie hat mich noch nie interessiert. Das hat mir nicht entsprochen." Was genau ihn störte, kann er nicht benennen. Instinktiv lehnte er von Anfang an diese Form der Landwirtschaft ab. Seinem Lehrmeister ist er trotzdem dankbar, von ihm den Umgang mit Gemüsepflanzen gelernt zu haben. Zudem traf Sippel im dortigen Betrieb auf Martin Scharpf, der ihm die Zeitschrift "Der Schweizer Jungbauer" ans Herz legte, die wiederum Dr. Hans Müller gegründet hatte. Die geistigen Wurzeln des organisch-biologischen Anbaus und damit der Grundlage von Bioland liegen im Alpenstaat. Doch dazu später mehr. Zunächst erfuhr Sippel dank der sogleich abonnierten Zeitschrift von Rachel Carsons Buch "Der stumme Frühling". Spätestens nach dieser Lektüre war Sippel klar, so wie bisher kann er im Gemüsebau nicht weitermachen. Bereits 1964 stellt er seinen damals zehn Hektar großen Betrieb in Nürnberg Wetzendorf auf Bio um. "Der Nürnberger Gartenbauberater hat gesagt: Jetzt versteht er mich nicht mehr. Von allen Seiten habe ich nur Negatives gehört. Ob von Kameraden im Dorf oder Berufskollegen, ich war komplett aberkannt. Niemand hat mich für voll genommen. Spätestens in drei Jahren wäre ich bankrott." Für den jungen Mann Anfang 20, der etwas bewegen möchte, war das eine harte Zeit. Sein Vater war nicht nur tief enttäuscht, sondern löste sein Wohnhaus aus dem Betriebsvermögen, um es vor einem möglichen Konkurs in Sicherheit zu bringen. Der biologisch-organische Anbau war noch recht jung. Bis ins Detail ausgearbeitete Richtlinien existierten ebenso wenig wie eine organisierte Kontrolle. Im Prinzip basierte anfangs alles auf Vertrauen.
Der deutsche Arzt und Mikrobiologe Hans Peter Rusch bereitete mit den Erkenntnissen seiner Forschungsarbeiten zu Bodenmikrobiologie und Bodenfruchtbarkeit die theoretische Grundlage. Durch ausgeklügelte Fruchtfolgen sollte die Bodenfruchtbarkeit erhöht werden. Gewirtschaftet werden sollte in geschlossenen Nährstoffkreisläufen - natürlich ohne chemische Hilfsmittel. Als Gegenpol zur erstarkenden chemisch-industriellen Landwirtschaft hatten sich zuvor besonders die Lebensreformbewegung und die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise nach Rudolf Steiner und dem daraus 1924 entstandenen Anbauverband Demeter etabliert. Bei Letzterem wird jeder Betrieb als ein lebendiger Organismus betrachtet; angefangen von kleinsten Bodenlebewesen bis zu den Nutztieren. "Kosmische" Kräfte und Planetenkonstellationen spielen ebenso eine Rolle wie die Präparate-Arbeit, eine Art Homöopathie für Boden und Pflanzen. Damals wie heute ist das einigen zu mystisch und unwissenschaftlich, weswegen die Methoden teilweise heftig in der Kritik stehen. Auch Günter Sippel konnte damit wenig anfangen. Anders ging es ihn mit den Schriften des Dr. Hans Müller. Dessen Frau Maria Müller-Bigler zählt zu den Pionierinnen der organisch-biologischen Methoden. Müller selbst hatte im Laufe seiner politischen Karriere in der Schweiz als Agrarpolitiker die Bauernheimatbewegung ins Leben gerufen. Nachdem der Politikerhut am Nagel hing, entwickelte er gemeinsam mit seiner Frau die organisch-biologischen Methoden weiter. Ab den 1960er-Jahren breiteten sich die Konzepte auch in Deutschland aus, vornehmlich im Süden. Die Autostunden zu der vom Ehepaar Müller etablierten Tagungsstätte Möschberg in der Nähe von Bern nahm man gern in Kauf. Gemeinsam mit Martin Scharpf reiste Sippel jedes Jahr an und bildete sich weiter. "Das Publikum war ganz meins. Jeder hat von seiner Region erzählt", schwärmt Sippel, der jede Gelegenheit nutzte, andere Bio-Betriebe zu besichtigen. Sein eigener Hof musste zunächst einige Rückschläge verkraften. Einmal füllte die Ernte auf 3.000 Quadratmeter gepflanzten Sellerie lediglich sieben Gemüsekisten. "Da ist es mir mehr als schwummrig geworden, ich habe schlaflose Nächte gehabt." Hintergrund war ein Fehler aus Unkenntnis. Damals brachte er beispielsweise Schafsmist auf dem Acker aus. Doch durch das darin enthaltene Stroh gelangte Cycocel in den Boden. Das chemische Mittel reguliert als Halmverkürzer das Wachstum der Getreideähren, was die Arbeit des Mähdreschers erleichtert. Die magere Ernte war weiteres Wasser auf die Mühlen der Kritiker im Ort. Zum Glück schickte ein Naturmediziner seine Patienten zu Sippel, der das Bio-Gemüse eigentlich nur an Großhändler und Läden liefern wollte. Der eigene Hofladen war geboren, und zum ersten Mal gab es Dank und Anerkennung. Balsam für Sippels Seele.
Doch zurück zum Anbauverband. Die Vereinsgründung in Deutschland trieb Martin Scharpf entscheidend voran, wovon Hans Müller in der Schweiz zunächst wenig angetan war. Das Wissen um den organisch-biologischen Anbau sollte im direkten Austausch von Bauer zu Bauer weitergetragen werden. In der Praxis war dies jedoch kaum möglich. Sippels nächster ökologisch wirtschaftender Nachbar war rund 200 Kilometer entfernt. Obwohl der Verein sich als richtiger Weg erwiesen hat, war der junge Gemüsebauer Sippel bei der Gründung - sagen wir mal - vorsichtig optimistisch. "Ich habe geglaubt, wir sind Spinner und wir bleiben Spinner. Man hat sich doch noch nicht einmal zu denken getraut, dass in einem landwirtschaftlichen Fachblatt über Bio berichtet wird." Jedenfalls wollte die allgemeine Euphorie bei ihm nicht so ganz überspringen. Dennoch war er im ersten Vorstand aktiv, wobei er betont, eher in der zweiten Reihe gewesen zu sein. Zunächst galt es noch in den 1980er-Jahren die größte Krise im heimischen Betrieb zu überleben. Nach anfänglichen Erfolgen sanken die Erntemengen immer weiter. Egal, welcher Berater auf den Hof kam, die Ursache blieb verborgen. Ab einem gewissen Punkt war Sippel derart verzweifelt, dass er in einem Brief den damals über 90 Jahre alten Hans Müller um einen Besuch bat. Nahezu sprichwörtlich kam Hans Müller, sah und hatte die Lösung parat. Ihm fiel auf, dass Sippel mittels einer Landmaschine den Boden zu tief gelockert hatte. Die eindringende Wärme und der Sauerstoff rieben den fruchtbaren Humus auf. Die Maschine wurde verkauft und bereits eineinhalb Jahre später stellte sich der Erfolg wieder ein. "Da habe ich mir an den Kopf gelangt: Wir wollten alles besser machen und haben stattdessen ein Eigentor geschossen. Ohne die Hilfe von Dr. Müller hätte ich nicht gewusst, ob ich den Bio-Weg hätte weitergehen können." Sippels Erfahrungen stehen exemplarisch für viele Frauen und Männer der "zweiten Welle", die sich der ökologischen Landwirtschaft verschrieben haben.
Chemie hat Günter Sippel noch nie interessiert, ökologischer Gemüsebau jedoch schon. Foto: Jens Brehl
Im Gründungsjahr des Vereins, 1971, gab es nicht annähernd die Vermarktungsstrukturen, wie wir sie heute kennen, und Bio war kein rechtlich geschützter Begriff. Jeder konnte seine Produkte als "biologisch" oder "ökologisch" ausloben. Erst 1991 verschaffte die EU-Öko-Verordnung zum ökologischen Landbau gesetzliche Klarheit. Lebensmittel, die im Produktnamen die Silbe "bio" tragen oder als biologisch angepriesen werden, müssen aus ökologischer Landwirtschaft stammen. Seitdem gibt es für die Bio-Kontrollen gesetzliche Vorgaben, die die privatwirtschaftlichen Kontrollstellen überprüfen. Wobei die Richtlinien der Anbauverbände in Punkten wie Tierbesatzdichte, Zusatzstoffe in verarbeiteten Lebensmitteln und dergleichen deutlich strenger sind. Demzufolge werden bei den jährlichen Kontrollen in einem Anbauverband zugehörigen Betrieben mehr Punkte abgefragt. Heute gibt es Bio-Lebensmittel nahezu in allen Supermärkten, Discountern und Drogerien - damals eine Utopie und auch heute für gelebte Bio-Ideale mitunter herausfordernd. Dazu später mehr, denn zunächst musste der junge Verein seinen Weg in den Markt finden und sich mehrfach praktischen Gegebenheiten anpassen. Acht Jahre nach der Gründung beschloss der Vorstand künftig den Begriff Bioland in den Vereinsnamen aufzunehmen. Bioland sprach auch...