Psychologen und Ärzte müssen sich in der psychotherapeutischen Versorgung von Geflüchteten auf den kulturellen-religiösen Hintergrund, die oft traumatischen Vorerlebnisse im Heimatland und während der Flucht und auf die Schwierigkeit der Integration einlassen. Dieses Buch gibt Ihnen Sicherheit bei der Therapie von Geflüchteten und beleuchtet Spezifika der therapeutischen Beziehung unter interkulturellen, sprachlichen, rechtlichen und versorgungsbezogenen Aspekten. Im Vordergrund stehen Konzeption, Diagnostik und Behandlung von Traumafolgestörungen und deren Komorbiditäten wie z.B. Depressionen oder Suchterkrankungen. Der Blick auf spezifische Personengruppen innerhalb der Geflüchteten (z.B. alleinreisende Jugendliche, Familien, ältere Menschen), auf die Belastung professioneller Helfer und ein Praxisleitfaden runden das Buch ab.
2 Prävalenz körperlicher und psychischer Erkrankungen bei Asylsuchenden und Geflüchteten
Christine Schneider, Kayvan Bozorgmehr
2.1 Einleitung
Eine zunehmende Zahl von Menschen flieht aus ihren Heimatländern vor Kriegszuständen und Hungersnöten und sucht Schutz in anderen Ländern. Deutschland beherbergt in absoluten Zahlen die größte Anzahl an Schutzsuchenden in Europa.
So stehen das deutsche Gesundheitssystem, aber auch Ärzte und Therapeut(inn)en vor der großen Herausforderung, eine adäquate medizinische Versorgung für Geflüchtete sicherzustellen. Eine Vielzahl rechtlicher und bürokratischer Hürden erschwert dabei eine adäquate Behandlung. Durch unzureichende Gesundheitsversorgung im Herkunftsland, widrige Fluchtbedingungen und traumatisierende Erlebnisse stellen Geflüchtete eine besonders vulnerable Gruppe dar. Repräsentative Daten zum körperlichen und psychischen Gesundheitszustand von Geflüchteten in Deutschland sind noch immer rar ? [52]. Asylsuchende und Geflüchtete sind bisher weder in Gesundheitssurveys des Bundes eingeschlossen ? [84], noch existieren aussagekräftige epidemiologische Studien über ihren Gesundheitszustand jenseits einzelner Erkrankungen ? [52]. Hinzu kommt, dass angesichts der inhärenten Dynamiken der Fluchtbewegungen mit Blick auf die Herkunftsländer sowie Migrationsrouten epidemiologische Erkenntnisse unter Umständen eine kurze Halbwertszeit haben. Aus den Erkenntnissen vieler regionaler Studien ? [52] und den Rückgriff auf Untersuchungen in vorherigen Flüchtlingspopulationen lässt sich jedoch in ihrer Gesamtheit ein vorsichtiges richtungsweisendes Bild über das vorherrschende Krankheitsspektrum bei Asylsuchenden in Deutschland gewinnen, das im Folgenden dargestellt werden soll.
2.2 Körperliche Erkrankungen
Die Mehrheit der Geflüchteten entstammt Regionen, in denen die Gesundheitssysteme aufgrund von Armut und Bürgerkriegen in einem desolaten Zustand sind. Jedoch war in vielen Ländern bereits vor Ausbruch von Konflikten und Krisen vielen Menschen eine adäquate medizinische Versorgung aus finanziellen oder ethnischen Gründen verwehrt. So ist davon auszugehen, dass viele Geflüchtete schon im Heimatland unter gesundheitlichen Beschwerden litten, die nicht ausreichend behandelt wurden. Die belastenden Umstände und körperlichen Strapazen während der Flucht begünstigen die Verschlimmerung bestehender und das Auftreten neuer Erkrankungen. Zusätzliche Risikofaktoren für das Auftreten und die Verbreitung von Infektionskrankheiten stellen hohe Prävalenzen in den Herkunftsländern, fehlender Impfschutz und die Flucht per se dar ? [47]. Doch auch nach Ankunft in Deutschland fördert die Unterbringung in improvisierten Unterkünften durch die beengte Wohnsituation und mangelnde Basishygiene die Ausbreitung infektiöser Erkrankungen ? [42], ? [73].
Anhand von Daten des Bremer Gesundheitsprogrammes (1993-1994) beschreibt Mohammadzadeh ? [79] Erkrankungen der Atmungsorgane als die am häufigsten auftretenden gesundheitlichen Beschwerden, gefolgt von Hauterkrankungen, Krankheiten des Gastrointestinaltrakts und Schmerzzuständen. In den Jahren 2001-2008 wurden als häufigste Einzelbefunde geschlechtsübergreifend Kopfschmerz (17,2%), Grippe (ca. 5%) und Atemwegsinfektionen (ca. 5%) diagnostiziert. Auch die aktuellen Daten des Bremer Gesundheitsprogramms aus den Folgejahren lassen trotz des kontinuierlichen Anstiegs der Flüchtlingszahlen keine bedeutenden Unterschiede im Krankheitsspektrum erkennen ? [79]. Erstuntersuchungen, Impfungen und Beratungen (ICD-10 Kapitel Z) stellten mit 29,6% die häufigsten Behandlungsgründe dar, gefolgt von Atemwegserkrankungen (18,1%), unspezifischen (Schmerz-)Symptomen (16,9%), Erkrankungen des Verdauungstraktes (6,1%) und des muskuloskelettalen Systems (6%). Infektiöse und parasitäre sowie psychische Erkrankungen stellten in der Gesamtschau aller Jahre nur einen sehr kleinen Anteil der gestellten Diagnosen dar.
Ein bedeutender Teil der häufig diagnostizierten unklaren Beschwerden und Schmerzsymptome ist jedoch als Somatisierung der psychischen Belastungen während der Flucht und des Asylverfahrens zu werten ? [71]. In einer qualitativen Auswertung der von Asylsuchenden in Osnabrück genannten gesundheitlichen Beschwerden zeigt sich ein fast identisches Spektrum an Krankheitsbildern, das durch Magen-Darm-Beschwerden, Schmerzzustände und Erkältungskrankheiten dominiert wird ? [48]. In Einklang damit unterstreichen aktuellere Daten aus München das gehäufte Vorkommen von Atemwegsinfektionen, vor allem durch unspezifische virale Erreger, sowie neuropsychiatrischen Syndromen und gastrointestinalen Erkrankungen ? [42].
Anhand der Übereinstimmung der aufgeführten Beispiele lässt sich ein Krankheitsspektrum erkennen, das von Schmerzsymptomen, gastrointestinalen und respiratorischen Erkrankungen dominiert wird und nur einen geringen Anteil - zumeist im Promillebereich - schwerer infektiöser Erkrankungen aufweist. Auffallend ist eine große Bandbreite der Beschwerden, die im Wesentlichen dem allgemeinärztlichen Krankheitsspektrum entspricht, doch sollten Infektionskrankheiten mit Blick auf die Geoepidemiologie stets bedacht werden. Für Geflüchtete bestehen hohe Hürden im Zugang zur medizinischen Primärversorgung ? [90]. Daher ist es umso bedeutender, dass Personen, die regelmäßigen Kontakt zu Geflüchteten haben, sensibilisiert sind für häufige Krankheitsbilder, um beim Auftreten von körperlichen Krankheitssymptomen im Bedarfsfall eine entsprechende Behandlung zu initiieren.
2.2.1 Infektionserkrankungen
Stellungnahmen des Robert Koch Instituts betonen, dass von Asylsuchenden keine erhöhte Gefährdung für die Allgemeinbevölkerung ausgeht ? [86]. Dennoch sind Geflüchtete nicht nur aufgrund erhöhter Prävalenz von Infektionskrankheiten und eingeschränkten Möglichkeiten der Impfung in den Herkunftsländern, sondern auch durch widrige Bedingungen auf der Flucht und in den Aufnahmeeinrichtungen besonders gefährdet gegenüber infektiösen Erkrankungen ? [47]. Eine Auswertung repräsentativer Daten des Robert Koch Instituts ? [85] belegt, dass der größte Anteil aller Ausbrüche in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende (2004-2014) auf impfpräventable Erkrankungen und Schmierinfektionen zurückzuführen war, darunter vor allem Windpocken, Masern, Skabies, Rotaviren, Salmonellen und Tuberkulose ? [73]. Der Großteil der Infektionen (87%) wurde erst in Deutschland erworben ? [73]. Es zeigten sich in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme von Fällen pro Ausbruch und gehäufte Ausbrüchen von Skabies und infektiösen Gastroenteritiden, die sich durch Verschlechterung der Gesundheitssysteme in den Herkunftsländern, aber auch durch die hohe Inanspruchnahme der Gesundheitsangebote und der Unterbringungsmöglichkeiten in Deutschland erklären lassen ? [73]. Durch verbesserte Primärprävention im Sinne von Impfungen, hygienischen Standards und Aufklärung ließe sich daher die Mehrheit der Ausbrüche in Gemeinschaftsunterkünften vermeiden.
Unter allen Asylsuchenden des Bremer Gesundheitsprogramms waren im Zeitraum von 2001-2008 15% aller männlichen und 11% aller weiblichen Asylsuchenden von infektiösen Erkrankungen betroffen. Wesentlich häufiger als schwerwiegende Erkrankungen wie HIV, Hepatitiden oder Tuberkulose wurden Dermatophytosen, Läuse- und Filzlausbefall und Skabies diagnostiziert ? [71]. Aktuelle Daten des Bremer Gesundheitsprogramms zeigen ähnliche Erkenntnisse ? [79]. Da die Verbreitung dieser Erreger durch schlechten Allgemeinzustand, engen zwischenmenschlichen Kontakt und unzureichende Hygienebedingungen gefördert wird, ist von einem gesundheitsschädlichen Einfluss der Lebensbedingungen während der Flucht und in den Aufnahmeeinrichtungen auszugehen ? [71].
Unter den nach Infektionsschutzgesetz meldepflichtigen Erkrankungen traten bei Asylsuchenden im Jahr 2016 vor allem impfpräventable und gastrointestinale Krankheiten auf. Am häufigsten wurden Windpocken (1091 Fälle), Influenza (455 Fälle), Rotavirus- (117 Fälle) und Norovirus-Gastroenteritiden (102 Fälle) gemeldet. Durch gezielte...