Gerlind Frenzer war es gewohnt, eine der ersten zu sein, die am Morgen aus den Federn kroch. Aber heute, nach einer schlaflos verbrachten Nacht, fiel es ihr schwer, aus dem Bett zu finden. Sie duschte eiskalt, um ihre Lebensgeister zu wecken.
Als sie in den Spiegel blickte, erschrak sie fast vor ihrem eigenen Spiegelbild. Ihre sonst so frischen Farben zeigten krankhafte Blässe. Unter ihren blauen Augen lagen dunkle Schatten.
Sie flocht das gelockte Haar zu einem dicken Zopf, schlüpfte in die Reitkleidung und verließ leise ihr Elternhaus, ein hübsches Gebäude aus hellem Klinker, das nur einige Steinwürfe von Gut Westerholt entfernt lag.
Wunderschön war der Morgen, ganz hell und golden mit nur einigen fedrigen Wölkchen am Himmel. Der Weg wurde von Linden gesäumt, deren süßer Blütenduft schwer in der Luft lag.
Auf der Gräfte links von ihr paddelten die Wildenten, gefolgt von ihren putzigen Jungen. Die Gräfte bildete die natürliche Grenze zum englischen Park mit dem feudalen Herrenhaus der Barone von Westerholt.
Das eigentliche Gut Westerholt lag wie eine Welt für sich seitlich des Privatgeländes. Die strahlend weiß getünchten Gebäude vermittelten den Eindruck von Gediegenheit und Sauberkeit. Auf beides legte man auf Westerholt großen Wert.
Ebenso liebevoll und professionell wurde hier die Pferdezucht betrieben, deren guter Ruf weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt war.
Gerlinds Weg führte direkt in die Ställe, wo ihre Kollegen, die Pferdewirte Jens und Jan, bereits dabei waren, die Pferde zu füttern.
»Hallo, ihr beiden«, grüßte sie gewollt munter. »Ist das nicht ein herrlicher Morgen?«
»Hallo, Gerlind«, klang es unisono. »Bringen wir die Pferde auf die Weide, wenn sie gefrühstückt haben?« erkundigte sich Jens.
»Wird Zeit, die Ställe auszumisten«, fügte Jan hinzu.
»Gute Idee! Ich werde euch helfen, sobald ich die Privatpferde versorgt habe.«
Gerlind wurde es immer warm ums Herz, wenn sie sah, wie sich die Pferde freuten, wenn sie auf die Weide durften. Nur die Jungpferde blieben bei schönem Wetter auch nachts über draußen, während die hochgezüchteten Reitpferde in ihren Boxen übernachten mußten.
Nachdem die Tiere versorgt waren, konnten die Pferdepfleger an ihr eigenes Frühstück denken. Zu dieser Tageszeit herrschte im Speisesaal des Gutsgebäudes ein stetes Kommen und Gehen.
Warmhaltekannen mit Kaffee oder Tee standen genauso bereit wie das Frühstücksbüfett, an dem man sich nach Lust und Appetit bedienen konnte.
Heute wählte Gerlind Tee. Der Geruch nach Kaffee bereitete ihr Übelkeit. Auch das Käsebrötchen bekam sie kaum hinunter. Sie beeilte sich, wieder an die frische Luft zu kommen.
An der Tür begegnete ihr der Vorarbeiter Lukas Brettschneider, ein Mann in mittleren Jahren, der ebenso häßlich wie gutmütig war.
»Gerlind, meine Schöne, du gehst schon? Ich hoffe, du würdest mir die Freude deiner Gesellschaft machen.«
»Da hättest du früher aufstehen müssen«, lachte sie. »Vielleicht klappt es ein anderes Mal.«
Lukas war ein Original. Er liebte es, geschwollen daherzureden. Wie der Teufel hinter der Seele war er hinter Mamsell Frieda her, und es wurden bereits Wetten darüber abgeschlossen, wann und ob die rundliche Mamsell ihn erhören würde.
Mamsell Frieda war die gute Seele von Westerholt, eine patente Person, die das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Dank ihrer Fürsorge lief die Versorgung der Angestellten und Arbeiter wie am Schnürchen, und da die Liebe bekanntlich durch den Magen geht, wurde sie von allen hochgeschätzt.
Da Gerlind heute bis zum Abend frei hatte, nutzte sie die günstige Gelegenheit, um mit ihrem kleinen Wagen in die Stadt zu fahren. Sie hatte einen Termin beim Frauenarzt, der ihr nur das bestätigte, was sie schon insgeheim geahnt hatte:
Sie war im zweiten Monat schwanger! Zwischen Freude und Angst schwankend, machte sie sich auf den Heimweg.
Ich muß mit Mark reden, heute noch, entschloß sie sich. Mark Breuer war als Reitlehrer auf dem Gut beschäftigt. Sie hatte ihn vor einem halben Jahr kennengelernt, und sie hatten sich beim Silversterball im Gutssaal Hals über Kopf ineinander verliebt.
Doch erst auf dem Frühlingsfest war sie seinen Verführungskünsten erlegen. Verrückt vor Verliebtheit hatte sie nicht darüber nachgedacht, welche Folgen das haben konnte. Jetzt bereute sie es, keine Vorkehrungen getroffen zu haben. Aber wie immer kam die Reue zu spät.
Wie wird Mark auf meine Schwangerschaft reagieren? fiel es ihr schwer auf die Seele. In der letzten Zeit wirkte er so ruhelos und redete pausenlos davon, den Job hier aufzugeben. Sein Freund Pierre hatte ihm den Floh ins Ohr gesetzt, ihn mit nach Afrika zu nehmen, wo sie Touristen auf Fotosafaris begleiten konnten.
Er muß diese verrückten Pläne aufgeben, dachte Gerlind. Jetzt, wo wir ein Kind bekommen werden, muß er sich seiner Verantwortung bewußt werden und mich heiraten.
Der Tag ging zur Neige. Die Arbeit war getan, und auf Gut Westerholt herrschte die friedvolle Stimmung des Feierabends.
Mark hatte Gerlind von ihrem Zuhause abgeholt. Er hatte höflich ihre Eltern, Krista und Andreas, begrüßt und ging dann mit ihr in den großen Garten, der erst an der Gräfte endete.
Am Ufer war ein Kahn vertäut. Mark half Gerlind hinein und nahm die Ruder. Gemächlich glitt der Kahn über das ruhige Wasser, durch einen grünen Tunnel von Sträuchern und Weiden, dessen Blätter so tief reichten, daß sie das Wasser zu streicheln schienen.
Mark war nur mittelgroß, aber sehr attraktiv. Sein blondes Haar war wild gelockt, und in dem gutgeschnittenen Gesicht funkelten die Augen wie blaue Edelsteine.
»Heute konnte ich es kaum abwarten, dich zu sehen, Schatz«, platzte er heraus. »Ich habe großartige Nachrichten.«
»Ich habe dir auch etwas zu sagen.« Sie lächelte ihn an. »Aber sprich du zuerst.«
»Pierre hat sich gemeldet. Sein derzeitiger Kollege ist wegen Krankheit ausgefallen. Ich soll so rasch wie möglich nach Kairo kommen. Gleich morgen lasse ich beim Arzt die nötigen Impfungen vornehmen. Und dann geht es los, nach Afrika! Das Abenteuer wartet!« rief er enthusiastisch.
»Du willst mich verlassen?« Gerlind erschrak. »Liebst du mich nicht mehr?«
»Natürlich liebe ich dich, meine Süße«, beteuerte er. »Aber versteh doch, ein Traum wird für mich in Erfüllung gehen. Ich werde Afrika, dieses märchenhafte, wunderbare Land mit eigenen Augen sehen können. Und außerdem werde ich gutes Geld verdienen, viel mehr Geld, als mir der läppische Job als Reitlehrer hier einbringt. Freust du dich denn nicht mit mir?«
»Soll ich mich auch noch freuen, wenn du mich allein läßt?« Sie brach in Tränen aus. »Mark, ich war heute beim Arzt. Er hat mir bestätigt, daß ich schwanger bin. Mark ich bekomme ein Kind von dir. Du kannst mich jetzt nicht allein lassen.«
*
»Verdammt, wie konnte das nur passieren?« regte Mark sich auf. Er hatte den Kahn zurückgerudert, denn die gute Laune war ihm gründlich vergangen. Jetzt saßen sie auf der Holzbank am Ufer, wo sie ungestört reden konnten.
»Es ist nun mal passiert«, sagte Gerlind bedrückt. »Willst du mir deswegen Vorwürfe machen?«
»Du hättest die Pille nehmen können!«
»Auch du hättest verhüten können. Wir haben beide vergessen, uns vorzusehen. Jetzt müssen wir auch beide die Konsequenzen tragen.«
Er räusperte sich. »Was erwartest du von mir?«
»Mark, du hast doch auch hier, auf Westerholt, dein Auskommen. Und wir lieben uns doch.« Sie legte ihm schmeichelnd die Arme um den Hals. »Mark, ich liebe dich über alles. Laß uns heiraten und glücklich zusammen leben.«
»Und was wird aus meinen Plänen? Ich habe Pierre bereits zugesagt und kann nicht mehr zurück.«
»Du mußt ihm absagen«, beschwor sie ihn. »Wenn er die Gründe erfährt, wird er dir das nicht übelnehmen.«
»Himmel noch mal, Gerlind, versteh doch endlich, daß mein ganzes Herz an diesem Job in Afrika hängt! Wie kann ich mir diese einmalige Chance entgehen lassen?«
»Aber du liebst mich doch«, flüsterte sie unter Tränen. »Wenn du mich wirklich so lieben würdest, wie du immer behauptet hast, würdest du keinen Moment zögern, diese abenteuerlichen Pläne aufzugeben, um mich zu heiraten.«
»Gerlind!« Er atmete tief durch, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen. »Du bist doch erst im zweiten Monat schwanger. Da wird sich doch ein Arzt finden lassen, der dieses Ärgernis beseitigt und dich von allen Problemen befreit.«
Sie blickte ihn ungläubig an. »Das sagst du nicht im Ernst.«
»Sei doch vernünftig, Gerlind«, beschwor er sie. »Es wäre das beste für uns alle.«
»Du meinst, es wäre das beste für dich?« brauste sie auf. »Damit wärst du alle Sorge und Verantwortung los. Genau das meinst du doch, oder täusche ich mich da?«
»Im Moment können wir uns den Luxus nicht leisten, ein Kind zu bekommen.«
»Dafür ist es zu spät. Ich bin schwanger, und ich werde das Kind bekommen, auf jeden Fall!« fuhr sie ihn an.
»Dann wirst du sehen müssen, wie du allein zurecht kommst. Ich kann dir da nicht helfen«, versetzte er kalt.
»Du lehnst es also ab, mich zu heiraten?« vergewisserte sie sich. »Du läßt mich mit dem Kind sitzen, einfach so? Weil es nicht in deine Pläne paßt?«
»Wenn es nach mir ginge, würde es gar kein Kind geben. Wenigstens jetzt noch nicht«, erklärte er in aller Deutlichkeit.
»Dann waren also all deine Worte von Liebe nichts als Lüge, nichts als ein Mittel, mich herumzukriegen?«
»Hör bitte auf, mir...