Plötzlich war ich wieder da. Ich war wach. Meinen Körper spürte ich nicht, in diesem Moment wohl auch besser so, und als ich um mich blickte, sah ich nur Maisfelder, viel Kies, einige Pfosten und die zwei LKWs am Straßenrand. »Thomas, Thomas!«, mehr konnte ich in diesem Moment nicht von mir geben. Ich wusste weder, wo er ist, noch ob er am Leben ist oder wie es ihm geht. Mit aller Kraft schrie ich, bis ich plötzlich das erlösende »Carina!«, vermerkte. Puh, er war am Leben, ich war am Leben, ich verspürte keinen Schmerz. Für einen Moment war alles gut. Die bierbäuchigen Fernfahrer, die sichtlich schockiert waren und mittlerweile aus ihren Trucks ausgestiegen waren, telefonierten hektisch. Ich vernahm, dass sie nach uns gesehen und die Rettung gerufen haben, gesprochen habe ich allerdings nicht mit ihnen. Noch immer benebelt, habe ich mich weiter umgesehen. Ich nahm Thomas' Schreie, die telefonierenden LKW-Fahrer und sogar meine Schwester wahr, die gerade mit dem Auto an der Unfallstelle ankam. Noch bevor sie es zu mir schaffte, blickte ich hinunter zu meinen Füßen. Was zuerst wie eine Illusion, wie ein falscher Film, wie ein Traum wirkte, brannte sich nun immer klarer in meine Wahrnehmung. Hätte ich in diesem Moment Schmerzen verspürt, wäre ich vermutlich in Ohnmacht gefallen. Meine Füße waren komplett verdreht, nicht mehr am Knochen haltend. Beide in die entgegengesetzte Richtung schauend, wie in einem Horrorfilm. Dellen, Verdrehungen, Brüche: Meine Füße und Beine befanden sich einem Zustand weit entfernt von Normalität. In diesem Moment wurde mir erst bewusst, wie heftig mein Aufprall gewesen sein musste, dass ich wohl mit meinen Beinen voraus gelandet bin und womöglich nie wieder gehen würde können. Adrenalin und der körpereigene Schutzmechanismus haben mir zumindest das Wahrnehmen der höllischen Schmerzen erspart, die nach Verletzungen dieser Art unvorstellbar sind. Bevor ich weinen, reagieren oder die Geschehnisse einordnen konnte, stand meine Schwester vor mir, etwa dreißig Sekunden nach Aufprall.
»Carina, oh Gott! Carina, oh Gott!«, mehr hörte ich nicht von ihr. Als sie meine Beine sah, legte sich allerdings ein Schalter bei ihr um. Sie wollte mich schützen, hat sich über mich gebeugt und angefangen, wie ein Wasserfall beruhigend auf mich einzureden. Das kann sie gut, auch heute noch. Kurz darauf trafen auch meine Eltern ein, zu meinem Leidwesen auch mein kleiner Bruder, der mich nie so hätte sehen sollen. Schwach, verletzlich und gebrochen, aber auch das gehört zum Leben.
Wenige Momente später war auch schon die Rettung da. Alles passierte ziemlich schnell und ich vernahm viele Eindrücke und Emotionen, obwohl ich meine eigene Gefühlslage noch nicht ganz einordnen konnte. Trotz des heftigen Aufpralls war ich, meines Erachtens zumindest, ziemlich klar im Kopf. Als die Sanitäter mich nach meinen Daten fragten, ratterte ich meine Sozialversicherungs- und meine Handynummer runter, als wäre nichts passiert. Und plötzlich wurde alles ganz lustig. Das Beruhigungsmittel, das sie mir gespritzt haben, hat seinen Nutzen auf jeden Fall erfüllt. Ich war happy, habe gelacht und war ganz aufgeregt. Die orangene Vakuum-Trage, in die sie mich verfrachtet haben, um sicher zu gehen, keine inneren Verletzungen zu verstärken und die Wirbelsäule zu schützen, fand ich in diesem Moment besonders amüsant. »So knallig, so schön, so lustig«, sind Gedanken, an die ich mich noch heute klar erinnern kann. Trotz meines Highs habe ich die Geräuschkulisse, die sich durch den annähernden Hubschrauber entwickelt hat, richtig gedeutet. »Der Hubschrauber ist da. Alles wird gut«, gab mir meine Mama mit auf den Weg, bevor ich verfrachtet und ins Universitätsklinikum Krems eingeliefert wurde. »Alles wird gut, Carina.«
EINE WERTVOLLE ERKENNTNIS
Meine Mutter sollte, wie es oft bei Müttern ist, recht behalten. Es wurde tatsächlich wieder alles »gut«, auch wenn der Weg dorthin kein leichter war, aber dazu später. Die Reha war hart, die Zeit im Rollstuhl war für mich, aber auch für mein Umfeld, herausfordernd und trotzdem weiß ich heute, dass dieser Unfall mich im Nachhinein gesehen mehr gestärkt als geschwächt hat. Denn auch wenn ich unzählige Verletzungen hatte, dem Tod direkt ins Auge geblickt habe und monatelang leiden musste, um wieder auf die Beine zu kommen, so bin ich um eine Erkenntnis reicher geworden: Ich habe in meinem Leben alles richtig gemacht. Ich bin bereit zu sterben, wenn es denn sein muss, ohne Reue, ohne »ich wünschte, ich hätte«-Gedanken und ohne auch nur eine einzige Entscheidung je anders getroffen zu haben. Aber wieso? Ich weiß, ich mag mein Leben, aber die Überzeugung, dass ich für mich den richtigen Weg eingeschlagen habe, die kam erst nach oder während des Unfalls zum Vorschein. Genau verstehen konnte ich das aber nicht, weshalb ich versuchte, die Puzzlesteine zusammenzusetzen und in meiner Vergangenheit mit dem Grübeln und Hinterfragen anzufangen und nach Antworten zu suchen. Denn eines wusste ich: Was auch immer es war, das mich so zufrieden und glücklich machte, was immer mich mein Leben lang getrieben hat, Entscheidungen so zu treffen, wie ich sie heute treffe, ich möchte es bewahren. Ich möchte auch die nächsten vierzig Jahre genauso auf mein Leben zurückblicken und wissen, ich habe für mich alles richtig gemacht.
ALLES AUF ANFANG
Du wirst später noch verstehen, warum es so wichtig ist zu wissen, WER du bist, wenn es um die richtigen Entscheidungen und die eigene Lebensgestaltung geht. Um herauszufinden, was ich also richtig gemacht habe, um zu erkennen, WIE ich meine Entscheidungen getroffen habe und was mich eventuell von anderen Menschen abhebt, will ich gemeinsam mit dir meine Person, meine Vergangenheit und prägende Erfahrungen skizzieren. Denk vielleicht auch über deine Vergangenheit, deine Wege, die du bereits eingeschlagen hast, und Schlüsselmomente in deinem Leben nach. Vielleicht ist das ein guter Anfang, um auch deinen Stärken und Schwächen auf den Grund zu gehen und zu erkennen, was du vielleicht anders machen kannst oder was du bereits in der Vergangenheit richtig gemacht hast.
Ich bin die Älteste von drei Geschwistern. Meine Eltern haben uns immer supported und meine Geschwister Julian, Linda und ich hatten immer schon ein gutes Verhältnis. Auch die Natur hat mich immer umgeben. So wie damals, bin ich heute tief im Herzen ein Landei. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf in der Nähe von St. Pölten in Niederösterreich, war mir Natur, Wald und Wiese immer näher als Hochhäuser und Großstadtstress. Was mir sofort in den Kopf geschossen ist, als ich nach dem Unfall zum ersten Mal intensiv über mein Leben und meine Vergangenheit nachgedacht habe, ist, dass mich meine Eltern schon als kleines Kind immer haben machen lassen. Sie haben meine Kreativität gefördert, mich diese ausleben lassen und haben nie versucht mich einzubremsen.
Gnadenlose Willensdurchsetzung
Ich war schon immer sehr eigensinnig. Wollte ich etwas, dann habe ich es irgendwie bekommen oder war kreativ genug, meinen Willen durchzusetzen. Bereits in jungen Jahren habe ich meine eigenen Projekte auf die Beine gestellt. Beim Vierziger meiner Mutter habe ich den Gästen Steine verkauft, die ich zuvor bemalt hatte. Zugegeben waren das keine künstlerischen Meisterwerke, aber die Steine haben sich gut verkauft. Die lagen einfach zur freien Entnahme im Garten, an der Donau oder am Straßenrand herum. Warum also nicht Geld daraus machen?
Ähnlich war es mit den Kriecherln. Die Pflaumenähnlichen Früchte sind in unserem Garten wie verrückt gewachsen. Wir hatten so viele Obstbäume, dass wir selbst mit Mamas Marmeladen, Säften, Kuchen und Strudeln nie alles aufbrauchen konnten. Mein junger Geschäftsgeist wusste, was zu tun ist und so stellte ich mich mit einem Kübel voller Kriecherln an den Straßenrand und verkaufte die überschüssigen Früchte. Ich war schon immer eine Business-Frau und ich wollte schon immer meinen Willen durchsetzen. Hatte ich eine Idee, dann folgte prompt die Umsetzung. Ein Highlight meiner frühzeitigen Projekte war zudem der Zirkus. Eines Nachmittags trommelte ich alle Kinder aus meinem Dorf zusammen und jeder sollte sich einen verrückten Act überlegen, den er dann vorträgt. Der Nachbarsjunge ist mit dem Einrad gefahren, eine Freundin präsentierte eine Hundeshow, jeder hatte sich etwas überlegt und zur Krönung wurden dann alle Dorfbewohner, Eltern, Bekannte, jeder der Lust hatte, zu uns in den Garten eingeladen, um das Spektakel zu bewundern. Egal, welche verrückte Idee wir umgesetzt haben, was für Späße, Geschäftsideen oder Spiele wir uns überlegt hatten, das meiste ist auf meinen Mist gewachsen.
Meine Eltern haben mich, meistens, machen lassen. Ich bin ihnen sehr dankbar dafür, denn sonst wäre ich heute nicht die Person, die ich bin. Natürlich haben sie manchmal die Reißleine gezogen. Dass ich ihnen oft richtig auf die Nerven gegangen bin, ist mir auch bewusst, aber ihre lockere Art und die Freiheit, die sie mir bei der Umsetzung...