Sein jüngerer Bruder Rahaman Ali beschreibt in dieser besonderen Biografie das Leben des Boxchampions aus einer bislang ungekannten Perspektive. Von der gemeinsamen Kindheit in ärmlichen Verhältnissen bis zum Gipfel des Boxerfolges und darüber hinaus war er an Alis Seite. Rahaman Ali gewährt in diesem Buch einzigartige Einblicke in die Geschichte des Mannes, den niemand so kannte wie er.
BRÜDER
Mein Bruder hätte unsere Mutter bei seiner Geburt beinahe umgebracht.
Er hatte einen riesigen Kopf, viel zu
groß, um auf natürliche Weise auf die Welt zu kommen. Die Ärzte im General Hospital in Louisville, Kentucky, versuchten alles in ihrer Macht Stehende, um meinen Bruder gesund auf die Welt zu bringen, und trotzdem wäre es beinahe schiefgegangen. Schließlich nahmen sie eine Geburtszange zu Hilfe, was dazu führte, dass Muhammad mit einem leicht schiefen Kopf auf die Welt kam. Glücklicherweise war auch unsere Großmutter mütterlicherseits da, um zu helfen. Sie versicherte unserer Mom, dass sie auf das Baby aufpassen würde, saß mit meinem neugeborenen Bruder im Arm da und streichelte seinen Kopf sanft von einer Seite zur anderen. Ob dies dazu beitrug, dass er schließlich diesen wohlgeformten Kopf bekam, kann ich nicht sagen, doch die Geburtszange hinterließ jedenfalls ihr Mal auf der rechten Wange meines Bruders, das er sein ganzes Leben mit sich herumtragen würde. Wie aber unsere Mutter uns immer erzählte, konnte man schon vom Tag seiner Geburt an sehen, dass mein Bruder ein richtig attraktiver Junge werden würde - mit diesen feinen Gesichtszügen, von denen die Schläge nur so abzugleiten schienen, und dem Gesicht, das so viele Tausende Male im Fernsehen zu sehen war - das Gesicht, das fast alle auf der Welt kannten. Er war von Anfang an ein gut aussehender Junge, und Mutter liebte ihn von dem Moment an, an dem sie ihn zum ersten Mal sah.
Trotzdem, nicht alle erkannten meinen Bruder gleich. Kurz nach der Geburt legten die Krankenschwestern das falsche Baby zu Mutter ins Bett, die vor Erschöpfung noch ganz benommen war. Als sie das Namensschild erblickte, merkte sie sofort, dass dies nicht ihr Baby war. Obwohl sie dabei sicherlich in Panik geraten sein musste, hat unsere immer ruhige Mutter ihre Stimme wahrscheinlich nur ganz leicht erhoben und gesagt: "Hey, das ist nicht mein Kind."
Sie hatte ihre eigene Art, diese Demütigungen mit Gelassenheit hinzunehmen - eine der vielen Eigenschaften, in denen sie das genaue Gegenteil unseres Vaters war. Schlussendlich brachten die Schwestern ihr meinen Bruder. Jahre später erzählte sie uns, dass die Babys auf der Station alle so ruhig gewesen seien und man kaum eines weinen gehört habe - mit Ausnahme meines Bruders natürlich, der nicht aufhörte zu weinen. Er startete wie eine Rakete, noch nicht einmal 24 Stunden auf der Welt, und war schon der Lauteste von allen, und natürlich steckte sein Geschrei die anderen Neugeborenen an. Nur mein Bruder konnte die Station so auf Trab halten. Vom Tag seiner Geburt an war Muhammad laut.
In den letzten fünfeinhalb Jahrzehnten war mein älterer Bruder "Muhammad" für mich, doch als er das Licht der Welt erblickte, nannten ihn unsere Eltern nach meinem Vater - Cassius Clay Marcellus Senior. Er wurde am 17. Jänner 1942 geboren, 18 Monate vor mir. Unser Vater war recht angetan von Rudolph Valentino, dem Hollywoodstar, und beschloss, mich nach ihm zu benennen, Rudolph Arnett Clay. Für meinen Bruder war ich immer Rudy, und er war für mich und den Rest der Familie Gee, wegen seiner ersten Worte, die er sprach: "Gee-gee." Er sagte "Gee-gee", wenn er hungrig war, seine Windeln gewechselt werden mussten oder er nur nach etwas Aufmerksamkeit und Zuwendung verlangte. Als er sich 1964 auf Muhammad umbenannte, nahm ich den Namen Rahaman an, doch unter Familienangehörigen hieß er immer noch Gee, und selbst heute nennen wir ihn noch so. Unseren Vater nannten wir Cash, und Mom war Bird, da sie immer in so ein wunderschönes Lachen ausbrach, wenn Vater für sie sang, sie neckte oder ihr Witze erzählte.
Unsere Mutter war am 12. Februar 1917 als Odessa Lee Grady geboren worden. Ihr Vater, John Grady, war zur Hälfte weiß, da er eine farbige Mutter und einen weißen irischen Vater hatte. Er war 1877 aus einer kleinen irischen Stadt namens Ennis nach Amerika gekommen. Nach einer langen und gefahrvollen Reise über den Atlantik traf und heiratete er eine befreite Sklavin. Mit innerer und äußerer Schönheit gesegnet, hatte unsere Mutter ein sehr sanftes und liebevolles Auftreten. Aufgrund ihres kräftigeren Körperbaus und der hellen Hautfarbe wurde sie oft für eine weiße Frau gehalten, sogar zu jener Zeit, in der die Hautfarbe eine wichtige Rolle im Leben der Menschen und den Möglichkeiten, die sie hatten, spielte.
Überhaupt war es eine Seltenheit, unsere Mutter verärgert oder aufgebracht zu sehen. Immer gut aufgelegt, war da immer ein Funkeln, das Mutter zu einer so umgänglichen Person machte. Sie behandelte andere mit Würde, und diese Werte gab sie auch an Muhammad und mich von frühster Kindheit an weiter. Wir wurden gelehrt, anderen Menschen freundlich zu begegnen, uns gut zu benehmen und ältere Menschen zu respektieren, egal woher sie kamen. Zweifellos erbte mein Bruder seine freundliche und generöse Seite von unserer Mutter.
Mutter legte aber auch großen Wert auf Ordentlichkeit. Sie zog uns immer gut an, doch ihre Ansprüche galten auch für unser Heim. Zu Hause sorgte sie dafür, dass wir unsere Hausarbeiten erledigten - jeden Morgen mussten wir unsere Betten machen und unsere Schmutzwäsche in den Wäschekorb legen, bevor wir aus dem Haus gingen. Reinlichkeit wurde von jedem Familienmitglied erwartet, egal ob jung oder alt. Sie hatte auch keinen Favoriten. Obwohl Muhammad der Erstgeborene war, kann ich offen sagen, dass Mutter uns beide gleich liebhatte und keinen dem anderen gegenüber bevorzugte.
Unser Vater war in vielen Belangen das genaue Gegenteil von Mutter. Er war ein talentierter Künstler, der als Schildermaler in Louisville und Umgebung arbeitete, und er erzählte uns einmal, dass er, als er in den frühen 1950er-Jahren mit dem Malen begann, erst der zweite Farbige in der Stadt war, der Tankstellenschilder malte. Zuerst malte Vater nur in der farbigen Nachbarschaft, doch nach einiger Zeit und guter Mundpropaganda fragten auch immer mehr Weiße nach seinen Diensten - und dass, obwohl es zu dieser Zeit noch Rassentrennung in der Stadt gab. Sogar Bilder von Jesus Christus, die in vielen Kirchen Louisvilles hingen, stammten von Vater. Sein Name war überall in der Stadt zu finden.
Muhammad und ich waren seine größten Fans und absolut fasziniert von seinen Gemälden. Wir sahen dabei zu, wie seine Bilder entstanden, und bewunderten sein Talent so sehr, dass wir auch malen wollten wie er. Er war später meine Inspiration, als ich mit der Malerei begann, auch wenn ich nie ganz sein Niveau erreichte, wie ich meine.
Er sagte zu meinem Bruder: "Du solltest Anwalt oder Doktor werden", doch schlussendlich waren es Vaters andere Talente, die Muhammed während seiner Laufbahn nachleben würde. Vater war ein natürlicher Schauspieler und liebte es, zu singen oder zu tanzen. Er hatte dieses gewisse Etwas, das einen Showman ausmacht, und er ahmte die Stars seiner Zeit nach. Dazu übte er immer wieder seinen Gesang zu Hause. Etwas anderes, wofür mein Vater bekannt wurde, war sein extravaganter Kleidungsstil.
Dieser adrette, dunkelhäutige und gut aussehende Mann zog seine frisch polierten Schuhe, seine immer eng anliegende Hose und ein frisch gebügeltes Hemd an und besuchte die Jazz Clubs der Umgebung, wo er bis in die frühen Morgenstunden tanzte. Er hatte diese Art, besonders schnell zu sprechen, so als ob er es eilig hätte, zu sagen, was er sagen wollte.
"Cassius, sprich langsamer. Ich versteh kaum, was du sagst", sagte Mutter zu ihm, ohne zu wissen, dass die Art, wie die Worte mit 100 Stundenkilometern aus dem Mund meines Vaters kamen, der Karriere meines Bruders einmal sehr zugutekommen würden.
Muhammed und ich waren immer der Meinung, dass unser Vater eine Karriere im Showbusiness hätte machen können, doch er meinte, dass es die Rassenschranke sei, die ihn davon abgehalten habe, richtig Erfolg zu haben, denn die Chancen für Farbige waren zu jener Zeit nicht existent.
Unglücklicherweise hatte Vater auch den Ruf, gerne zu trinken und ein Schürzenjäger zu sein. Er war ein Playboy, und Mutter musste sein Verhalten für den Großteil ihres Lebens tolerieren. Manchmal konnten wir unsere Eltern dabei beobachten, wie sie miteinander stritten, und Muhammad hasste es. Er versteckte sich dann unterm Bett oder kroch unter die Decke. Dabei umarmte er mich liebevoll und hielt seine Arme schützend um mich, seinen kleinen Bruder. Nichtsdestotrotz liebten unsere Eltern einander, auch wenn sie so unterschiedliche Persönlichkeiten waren. Im Unterschied zu unserer Mutter war unser Vater sehr ernst und nicht einer dieser Väter, von denen viel Liebe ausging. Doch am schlimmsten war es, wenn er betrunken war und begann, mit Mutter zu streiten und ihr gegenüber gewalttätig wurde. Im Großen und Ganzen war er aber ein freundlicher Mann, der danach strebte, die Menschen korrekt zu behandeln, doch diese Momente, in denen unsere Eltern stritten, hinterließen einen bleibenden Eindruck bei Muhammad und mir, und ich denke, dass wir beide uns deswegen immer so bemühten, die Frauen in unserem...